Obwohl das Ergebnis dieser Modellierung rechtzeitig vor Beginn der Konzeption einer neuen Tool-Generation als VDA-Empfehlung veröffentlicht wurde, stieß es auf geteilte Resonanz. Bei den Tool-Anbietern, hier im Besonderen bei Anbietern von Software zur Absicherung des Bordnetzes, wird dieser Standard angenommen und fließt in die Tool-Entwicklung mit ein. Bei der eigentlichen Zielgruppe reicht die Resonanz von voller Zustimmung (die Basis für die nächste Tool-Generation) bis zu totaler Ablehnung (kein Business Case erkennbar) und dem Einleiten von Aktivitäten zur Auflösung der Projektgruppe. Andere Industriezweige wie die Luft- und Raumfahrtbranche zeigen hier deutlich mehr Interesse als die Elektrikentwicklung der deutschen Automobilisten. Ein vom Airbuskonsortium beauftragtes Gutachten hat ergeben, dass das VEC-Datenmodell alle technischen Voraussetzungen für die Langzeitarchivierung der Flugzeugbordnetze erfüllt. Wer ist nun im Recht, die Befürworter oder die Ablehnungsfront des standardisierten Bordnetzmodells? Um hierzu ein klares Bild zu erhalten, betrachten wir einmal eine klassische Prozesskette des Automobilbaus: die Entwicklung der Karosserie und Ausstattung. Hier haben sich drei MCAD-Tools am Markt etabliert, mit denen die Rohkarosserie als 3D-Modell weitgehend im Verantwortungsbereich der OEMs – unterstützt durch Dienstleister – entwickelt wird. Ausstattungs- und Zubehörteile werden vom Lieferanten konstruiert und als 3D-Modelle zur Komplettierung des Fahrzeuggesamtmodells bereitgestellt.
Auf Basis dieses Fahrzeugmodells wird eine Vielzahl von Untersuchungen, Simulationen und Berechnungen durchgeführt: Kollisionschecks und Montagesimulation sind seit Jahrzehnten bewährte Absicherungsmethoden. Gewichts- und Schwerpunktberechnung sind Standardfunktionen der 3D-Geometrie-Tools. Temperatur- und Strömungssimulationen sind aus dem Entwicklungsprozess nicht mehr wegzudenken. Mit Visualisierungstechnologien können aus den CAD-Daten dreidimensionale Bilder erzeugt werden, mit deren Hilfe Ergonomieuntersuchungen, Sichtbarkeitsüberprüfungen und Reflexionsabsicherungen der Bedienelemente am Fahrersitzplatz durchgeführt werden.
Standardisierung verkürzt Entwicklungszeit
Durch diese virtuellen Absicherungsmethoden spart man sich den Aufbau von Dutzenden von Versuchsträgern und Prototypen und somit Millionen von Euro. Ihre Etablierung im Entwicklungsprozess um die Jahrtausendwende ermöglichte die Verkürzung der Entwicklungszeit um ein Drittel. Ohne Standardisierung wäre dies alles unmöglich; VDA-FS, IGES, STEP AP214, JT, VRML sind nur ein paar der Standardformate, welche im 3D-Bereich in den letzten Jahrzehnten entwickelt, auch eingesetzt wurden und immer noch verwendet werden. Niemand stellt in dieser Prozesskette den Nutzen und die Wirtschaftlichkeit der Standardformate in Frage. Zurück zur physischen Bordnetzentwicklung. Die Situation erscheint auf den ersten Blick sehr ähnlich. Die Leitungsstränge werden von den Lieferanten unter Verantwortung der Automobilhersteller entwickelt. Die Geometrie der Kabelbäume wird zwangsweise mit 3D-CAD-Tools erstellt, da sie als Bauteil des Fahrzeugs in den geometrischen Absicherungsprozess eingebunden werden muss. Damit sind die gelebten Gemeinsamkeiten schon vorbei. Die logische Vernetzung – eine Komplexitätsebene des Bordnetzes, welche im Karosseriebau so nicht vorhanden ist, ggf. noch mit den finiten Elementen zur Berechnung der Karosseriestruktur vergleichbar ist – wird in Form von Schalt- und Stromlaufplänen als Ansammlung von Linien mit fixen Anfangs- und Endpunkten erstellt, welche dann nach dem Routen in Verbindungslisten als Leitungen zwischen zwei Steckergehäusen wieder auftauchen.
Virtuelle Absicherung? Weitgehend Fehlanzeige. Ein bisschen Ladebilanzsimulation, aber auch hier werden die Modelle der Leitungsstränge auf Basis der zu deren Fertigung generierten KBLs in einem Redesignprozess erstellt. Obwohl es entsprechende Tools am Markt gibt, erfolgt keine virtuelle Absicherung der EMV (elektromagnetischen Verträglichkeit), keine Temperatursimulation, keine Schwingungsanalyse und nicht einmal Montagesimulationen. Von funktionalen Absicherungen ganz zu schweigen.
Formatvielfalt bei der Bordnetzentwicklung
Die Daten für Absicherungen lägen alle vor. Nur wird jeder Teil oder jede Sicht auf das physische Bordnetz in einem anderen Format beschrieben:
Nun kann jeder selbst entscheiden, ob der Einsatz eines Datenstandards in der physischen Bordnetzentwicklung Sinn macht und ob es dafür einen oder vielleicht sogar mehrere Business Cases gibt. Der Autor ist jedenfalls der Meinung, dass allein derjenige, der E-CAD-Tools weiterhin ausschließlich als elektronischen Tuschefüller sieht und sich mit KBL, TIF und PDF als Ergebnis seines Entwicklungsprozesses zufrieden gibt, auf eine standardisierte Modellierung verzichten kann. Wer aber den Release-Wechsel von Zeichenbrett 2.0 auf IT 1.1 ins Auge fasst, wird an einem Standard zur Datenablage nicht herumkommen. Und der einzige derzeit existierende unabhängige Standard ist die VDA-Recommendation 4968 Vehicle Electric Container (VEC).
Der Autor
Josef „Sepp“ Koppauer |
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studierte in München an der Fachhochschule Maschinenbau. Seit 1983 ist er bei BMW beschäftigt. Nach Stationen als Konstrukteur und Tool-Entwickler übernahm er Ende der 90er Jahre die Verantwortung für die Tool-Landschaft zur Unterstützung der Entwicklung des physischen Bordnetzes. Der Artikel drückt die persönliche Meinung des Verfassers aus und steht in keinem Zusammenhang mit der Strategie seines Arbeitgebers oder einer anderen Firma. |