Welche gesetzlichen beziehungsweise versicherungsrechtlichen Rahmenbedingungen sind notwendig, damit wir in naher Zukunft tatsächlich kognitive Fahrzeuge auf unseren Straßen sehen können?
Stiller: Bei dieser Fragestellung muss ich ein wenig weiter ausholen, da es eine Vielzahl offener Fragen diesbezüglich gibt, die es schnell zu klären gilt, da der Migrationsprozess bereits begonnen hat – Nachtsicht-, ACCoder Bremsassistenzsysteme sind ja bereits am Markt. Daher messe ich diesem Punkt eine zentrale Bedeutung bei. Das auf einem 2D-Lidar basierende CitySafety-System von Volvo beispielsweise kommt bei den Versicherungsgesellschaften ganz gut an, da sich damit eine Vielzahl kleinerer Unfälle vermeiden lässt. Bei den größeren Unfällen – auf der Autobahn bei höheren Geschwindigkeiten vor allem – muss die Klassifizierung des voraus liegenden Objektes allerdings absolut fehlerfrei funktionieren. Da reicht ein solches System nicht mehr aus. Ein weiterer Aspekt ist, dass wir uns in Deutschland und Europa rein rechtlich – und damit vor allem aus versicherungsrechtlicher Sicht – bei vielen aktiven Assistenzsystemen, die sich bereits heute im Praxisbetrieb befinden, in einer Art juristischer Grauzone bewegen. Grund hierfür ist, dass derartige Systeme aktiv in das Fahrtgeschehen eingreifen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass man für eine Zulassung solcher Systeme das internationale Recht ändern muss, da viele der heute geltenden Bestimmungen – beispielsweise das Wiener Weltabkommen – noch aus den 60er Jahren stammen. So steht dort geschrieben, dass jeder Fahrer zu jederzeit die volle Kontrolle über sein Fahrzeug beziehungsweise über sein Gespann haben muss. Dies interpretieren manche Juristen halt so, dass man autonome Funktionen nicht zulassen darf. Aber ein System wie das ABS unterbricht den Bremsvorgang – zumindest bei einem einzelnen Rad für kurze Zeit – ja auch ohne Zutun des Fahrers, der ja auf die Bremse tritt. Tatsache ist, dass viele Juristen eine große Angst vor einer Klärung solcher Sachverhalte haben wie z.B. was rein rechtlich ein passiver oder ein aktiver Eingriff eines Systems ist oder was das System tun darf. Trotz allem werden sich die Fahrzeughersteller mit der laufenden Verbesserung der Sensorsicherheit – zumindest aus technischer Sicht – immer mehr trauen, solche Systeme in neuen Modellen einzusetzen. Entsprechend werden wir es irgendwann – schätzungsweise in 20 Jahren – erleben, dass wir annähernd 100 Prozent der Unfälle vermeiden werden können. Es ist mit Sicherheit noch ein weiter Weg, bis wir derartige Systeme serienmäßig im Einsatz sehen werden. Allerdings bin ich auch davon überzeugt, dass bei einer gleich bleibenden Entwicklungsgeschwindigkeit, wie wir sie derzeit erleben, in etwas mehr als zehn Jahren die ersten kognitiven Automobile sich schon sicherer im Straßenverkehr bewegen werden, als es der Mensch selbst vermag. Spätestens dann sollte überlegt werden, ob solchen Systemen in Notsituationen nicht der Eingriff in das Fahrtgeschehen gewährt werden sollte.
Zur Person:
Professor Christoph Stiller ist Vice President der IEEE Intelligent Transportation Systems Society und studierte bis 1988 Elektrotechnik an der RWTH Aachen sowie an der Norwegischen Technischen Hochschule in Trondheim. Im Jahr 1994 promovierte er "mit Auszeichnung" am Institut für Elektrische Nachrichtentechnik der RWTH Aachen. Anschließend war er bei INRS-Telecommunications in Montreal, Kanada, und später in der Vorausentwicklung der Robert Bosch GmbH in Hildesheim tätig. Seit 2001 leitet er als Professor das Institut für Mess- und Regelungstechnik des Karlsruher Instituts für Technologie. Zudem ist er Sprecher des Karlsruher- Münchner Sonderforschungsbereichs Transregio "Kognitive Automobile" der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Kognition für mobile Systeme, maschinelles Sehen und deren Anwendungen. Professor Stiller ist Autor von mehr als 100 wissenschaftlichen Publikationen und Patenten in diesem Bereich.