Harman

»Heute sind ganz andere Ansätze im Automotive-Umfeld möglich.«

3. Mai 2024, 7:06 Uhr | Iris Stroh
© Componeers GmbH/Adobe

Armin Prommersberger, CTO von Harman International zeigt sich im Gespräch mit Markt & Technik überzeugt, dass es für Tier-Ones im Automotive-Markt noch nie so spannend war wie jetzt: Die Entwicklungen gehen schneller und die etablierten OEMs orientieren sich wirklich am Kunden.

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Markt & Technik: Warum sind Sie so optimistisch, genau in einer Zeit, in der mehr denn je darüber diskutiert wird, dass die Zulieferindustrie immer stärker unter Druck geraten ist bzw. gerät?

Armin Prommersberger: 2020/21 waren interessante Jahre. Damals entdeckte die Automotive-Industrie das Thema »Software« für sich und jeder wollte zu einer Software-Firma werden. Darüber hinaus wurde das Thema »Batterie« auch endlich in den Mittelpunkt geschoben und ist seither nicht mehr nur eine Nebenerscheinung. Darüber hinaus haben Unternehmen wie Google oder Apple kräftig ins Geschäft gedrückt. Und natürlich nicht zu vergessen die Corona-Pandemie und ihre Einflüsse. Alles zusammengenommen hat zu einer großen Verunsicherung geführt, infolge derer keiner in der Industrie genau wusste, wie es weitergehen würde. Und das war genau der Moment, indem sich auf einmal ganz viele Freiheitsgrade ergeben haben, etwas zu ändern. Denn in solch einem Moment sind alle bereit, den Status Quo zu hinterfragen und etwas zu ändern. Wenn alles gut läuft mit business-as-usual, dann ist die Bereitschaft, Dinge zu ändern, eher gering.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ja, Harman war immer bekannt für tolle Demos. Wir haben auf der CES regelmäßig anhand von tollen Demos gezeigt, was in zehn Jahren möglich sein wird, also in zehn Jahren in Serie gehen kann. Diese mehrjährige Perspektive ist heute in der Autoindustrie so nicht mehr angemessen, die Zyklen haben sich definitiv geändert.

Und das ist für Harman ein Vorteil?

Richtig, weil wir viel Erfahrung im Consumer-Markt haben, in einem Segment, das sich ebenfalls durch kurze Entwicklungszyklen auszeichnet und in dem ein Unternehmen nur erfolgreich sein kann, wenn es auf die Bedürfnisse der Anwender eingeht. Und diese Kombination gibt es im Automotive-Segment nicht häufig.

Heute werden auf einem Mobiltelefon in regelmäßigen Abständen Software-Updates durchgeführt, sei es, um die Sicherheit zu verbessern oder neue Funktionen zu ermöglichen. Daran hat sich der Kunde gewöhnt und erwartet das Gleiche heute auch von seinem Auto.

Das hört man oft, aber BMW beispielweise musste einen erheblichen Shitstorm über sich ergehen lassen, als es die Sitzheizung als Abo-Modell verkaufen wollte…

Welche Funktion der OEM als Abo-Modell realisiert, muss natürlich gut überlegt sein. Bei Sicherheitsfunktionen ist jedem von vornherein klar, dass hier regelmäßig nachgerüstet werden muss, weil das ein Bereich ist, in dem die Entwicklungen schnell voranschreiten, so dass Updates zwingend notwendig sind.

Wobei in diesem Zusammenhang ebenfalls betont werden muss, dass das generelle Kaufverhalten in Deutschland anders ist als in anderen Regionen. In Deutschland nimmt sich der Käufer drei Wochen Zeit für den Autokauf und klickt 25 Konfigurationen durch, um auf den letzten Euro genau mit dem vorhandenen Budget die Wunschkonfiguration zu erreichen. Für den OEM heißt das im Umkehrschluss, dass er 10.000 Varianten von einem Fahrzeug bauen können muss, was für ihn mehr Geld für die Logistik, die Entwicklung und die Homologation bedeutet. Eigentlich muss sich der Käufer also auch nicht wundern, wenn er beispielsweise für einen 3er-BMW in seiner Wunschkonfiguration plötzlich 60.000 Euro bezahlen muss. Was ich damit sagen möchte: die Idee hinter dem Abo-Modell für die Sitzheizung war richtig, die Umsetzung und Kommunikation hätte vielleicht, aber da ist man im Nachgang immer schlauer, anders laufen können.

Es sollte sich jeder im Klaren sein: Wenn ein OEM fünf verschiedene Lenkräder in zehn verschiedenen Farben anbieten muss, und dann noch zwischen beheizt und unbeheizt unterscheidet, dann liegt eine extrem hohe Anzahl verschiedener Lenkräder im Regal. Wenn hingegen jedes Lenkrad technisch gesehen für die Heizfunktion vorbereitet ist, dann ist das für den OEM kein großer Mehrkostenaufwand. In einem Abo-Modell kann der OEM dann für die Freischaltung der Funktionen keine Unsummen verlangen, aber es erleichtert dem OEM einiges an Aufwand und wenn er den Kostenvorteil dann noch an den Kunden weitergibt, lässt sich dieses Abo-Modell auch am Markt durchsetzen. Die Kommunikation ist hier sicherlich mitentscheidend.

Armin Prommersberger, Harman
Armin Prommersberger, Harman: »Wir investieren viel Arbeit, damit der Fahrer mit unseren Systemen eine gute Nutzererfahrung erlebt. Ein Punkt, der von vielen nur allzu leicht vergessen wird.«
© Harman

Dass im Entertainment-/Infotainment-Bereich eine gewisse Nachrüstbarkeit gewünscht ist, kann ich mir leicht vorstellen, aber glauben Sie wirklich, dass es Leute gibt, die heute ein Auto mit 150 PS kaufen und dann in fünf Jahren 240 PS per Software freischalten lassen?

Ja, daran glaube ich ganz fest, insbesondere im Premiumsegment. Hier ist es letztlich so, dass die meisten Fahrzeuge zunächst als Leasing-Fahrzeuge verkauft werden. Nach zwei/drei Jahren gehen diese Fahrzeuge in den Sekundärmarkt über und werden von Privatpersonen übernommen. Damit ändern sich die ganzen Rahmenbedingungen, denn der Zweitnutzer kauft vielleicht seinen ersten 3er-BMW, weil er es sich leisten kann und freut sich dann, wenn er ihn noch ein wenig aufrüsten kann und zwar nach den eigenen Bedarfen und Wünschen.

Hier sollten wirklich die Erfahrungen auf dem Mobilfunkmarkt zum Tragen kommen. Jeder kauft sich ein Mobiltelefon und spielt dann die Sachen auf, die für ihn wichtig sind und macht es damit zu seinem persönlichen Mobiltelefon. Und das ist auch im Automotive-Markt entscheidend. Das Auto sollte nicht als fixer Gegenstand verstanden werden. Letztlich auch aus einem anderen Grund, denn im Automotive-Bereich sind die Entwicklungszeiten noch extrem lang. Zwar nicht mehr fünf Jahre, aber sagen wir vielleicht noch 4,8 Jahre. Wenn also heute ein Entertainment-System eindesignt wird, dann ist die Technik teilweise schon fünf Jahre alt, bevor sie auf den Markt kommt.

Das ist aber nur ein Problem der etablierten OEMs, oder?

Das stimmt, denn wenn man sich die Entwicklungszeiten bei Tesla oder den neuen E-Playern aus China anschaut, sieht die Sache schon ganz anders aus. In China gilt heute ein Entwicklungszyklus von eineinhalb Jahren als lang. Deshalb tun sich auch viele europäische Anbieter auf diesem Markt so schwer. Aber wie bereits angedeutet, auch bei den etablierten OEMs gibt es Veränderungen.

Harman hat mit Ready Care eine Plattform vorgestellt, mit der sich die Entwicklungszyklen für die angebotenen Funktionen deutlich verkürzen lassen sollen…

Ja, HARMAN Ready Care ist eine Komplettlösung für die Fahrerüberwachung. Die Plattform mit all ihren Funktionen ist so aufgebaut, dass OEMs innerhalb von nur sechs Monaten die gewünschte Variante des Systems in ihre Fahrzeuge einbauen können. HARMAN Ready Care beinhaltet die nötige Hardware, nämlich drei Sensoren, eine Kamera und zwei Radarsensoren - 24 und 60 GHz – sowie die zugehörige Software.

Fahrerüberwachung ist eine ziemlich gängige Funktion…

Aber nur von einem Standpunkt aus: Ist sie in die Fahrzeuge integriert, erhält der OEM ein höheres NCAP-Rating und in manchen Ländern ist diese Funktion inzwischen auch Vorschrift. Diesbezüglich ja, sie ist gängig. Aber aus unserer Sicht ist die Funktion viel zu wichtig, als dass sie nicht dazu lernen können sollte. Eine Basisfunktion der Fahrerüberwachung besteht darin, zu überprüfen, ob der Fahrer müde ist. Das ist ein einfaches Problem. Schaut man sich aber Statistiken an, passieren die meisten Unfälle nicht, weil der Fahrer müde ist, sondern der häufigste Grund ist: der Fahrer ist unaufmerksam. Und das können wir mit unserer Kamera anhand der Augen ebenfalls überprüfen. Denn die Pupillen und ihre Bewegung geben viel Aufschluss darüber, was im Kopf des Fahrers los ist, wobei die Daten mit Maschinen-Lern-Algorithmen im Fahrzeug verarbeitet und analysiert werden, Über die Cloud wäre das nicht möglich, weil die Latenzzeiten zu lang wären.

Kommt der Algorithmus von Harman?

Der Algorithmus kommt von uns. Wir haben ihn mithilfe von Daten von tausenden von Menschen in allen Altersklassen und in allen Kulturbereichen trainiert, einschließlich vieler unterschiedlicher Szenarien, um die Corner Cases abzudecken. Und damit können wir sehr genau feststellen, ob der Fahrer ans Fahren und die Fahrsituation denkt oder ob er mit den Gedanken ganz wo anders ist.

Der OEM muss sich dann überlegen, was er mit dem Ergebnis anfängt, falls das System meldet, der Fahrer ist unaufmerksam?

Ja, das ist die Entscheidung des OEMs, und muss auch wohlüberlegt sein, denn jeder reagiert auf andere Warnsignale. Ich beispielsweise reagiere eher auf akustische Warnsignale, meine Frau hingegen eher auf optische. Anhand einer Demo könnte der OEM beispielsweise dem Käufer anbieten, diesen Punkt selbst auszutesten und seine Präferenz zu wählen.

Zu erkennen, ob der Fahrer abgelenkt ist, stellt ein Alleinstellungsmerkmal der Lösung von Harman dar, oder?

Richtig, das bietet nur Harman. Andere werden sicherlich folgen, aber wir haben bereits vor sieben Jahren angefangen, in dieses Thema zu investieren. Damals dachten alle anderen Anbieter, dass es vollkommen ausreicht, die Augenbewegungen zu überwachen und wie häufig das Auge auf- und zugemacht wird. Aber es gibt noch ein anderes Merkmal unseres Systems, das ich als wichtiges Unterscheidungskriterium ansehe: die Consumer-Experience. Wie erwähnt, kommt Harman aus diesem Bereich und wir wissen, dass dieser Punkt für ein System entscheidend ist.

Das System kann auch Vitaldaten erfassen. Heißt das, dass das Auto erkennt, wenn der Fahrer einen Herzinfarkt hat?

Ready Care ist kein medizinisches Gerät, aber es kann die Herzfrequenz messen und damit Trends ablesen, um so vorherzusagen, inwieweit die Vitalwerte das Fahrverhalten beeinflussen könnten. Sagen wir, die Herzfrequenz steigt auf einmal von 67 auf 112, dann hat es dafür einen Auslöser gegeben. Ist beispielsweise ein anderes Fahrzeug vollkommen unvermutet auf die eigene Fahrspur gewechselt, kann das schon mal dazu führen, dass der Herzschlag rapide nach oben geht. Diese Frage ließe sich wiederum mit Daten der Kameras außerhalb des Fahrzeuges relativ leicht überprüfen. Beide Daten kombiniert könnten dann zum Auslösen einer gezielten Intervention führen, zum Beispiel der Aktivierung der Warnblinkanlage. In einer anderen Situation sinkt die Herzfrequenz vielleicht ab, was beispielsweise ein Hinweis sein könnte, dass der Fahrer langsam einschläft.

Die Analyse der Vitaldaten ist aber auch mit Blick auf den Komfort interessant, zum Beispiel, um die Klimaanlage automatisch zu regulieren. Denn hier hilft ja kein fest eingestellter Wert als Indikator. Fahre ich durch die pralle Sonne, werden 21-Grad-Innentemperatur ganz anders wahrgenommen, als wenn ich nachts unterwegs bin. Aber anhand der Vitaldaten kann abgelesen werden, wie der Fahrer auf die Temperatur reagiert und diese entsprechend angepasst und so der Komfort verbessert werden.

Mit den beschriebenen Anwendungsmöglichkeiten könnte ein solches System auch für die Anbieter von Kfz-Versicherungen interessant sein…

Absolut, wobei hier in Deutschland momentan ja noch heftig über diese Black-Boxen diskutiert wird, wo sie in anderen Regionen, beispielsweise in den USA, bereits schon zum Alltag gehören. Hier teilen die Fahrer ihre Fahrdaten einfach über ihr Mobiltelefon selbst mit den Versicherungen und bekommen dafür zum Beispiel 10 Prozent Nachlass bei der Prämie. Das ist technisch alles leicht machbar, aber natürlich die Entscheidung des OEMs, ob er dies seinen Kunden anbieten will.


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