Auch TQ überprüft die Stücklisten von Kunden im Detail – allerdings nur, wenn der Kunde das kostenpflichtig in Auftrag gibt. Dafür geht TQ auch weit über die Datenbank-gestützte Analyse hinaus und recherchiert die für das Obsolescence Management relevanten Daten zusätzlich direkt in der Supply Chain. Das, so Ermel, sei in der EMS-Branche in Deutschland einzigartig: »Wir legen großen Wert darauf, in der Supply Chain dort, wo wir den Baustein später auch kaufen, aktiv nachzufragen, weil die Datenkonsistenz und die Datenqualität dadurch höher sind.« Garantien, wann ein Produkt abgekündigt wird, gibt es freilich auch dann nicht, aber die jahrelange Erfahrung von TQ bedeutet für den Kunden doch eine gewisse Sicherheit.
Obsolescence Management fängt nach Ansicht von Ermel schon in der Entwicklung an und beinhaltet ausdrücklich auch eine Second-Source-Strategie. In solchen Fällen definieren wir gemeinsam mit dem Entwickler Alternativen, die nach Formfaktor, Grenzwerten und Pinkompatibilität in Frage kommen.«
Grob geschätzt, macht es laut Ermel bei den meisten Stücklisten Sinn, für 20 Prozent der Bauteile Alternativen anzugeben: Zwar sehen die Stücklisten in einigen Fällen von vorne herein Second Sources vor, »aber es könnten mehr sein«, meint er. Umso sicherheitskritischer die Applikation ist, umso mehr Aufwand verursacht die Alternativensuche, und umso weniger Second Sources sind erfahrungsgemäß angegeben. Weil Single Sources auf der Stückliste grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen sind, muss beispielsweise jeder TQ-Entwickler eine extra Freigabe durch den strategischen Einkauf bzw. durch das Obsolescence-Management einholen, bevor er ein solches Bauteil eindesignt.
Eine weitere Möglichkeit, im Abkündigungsfall ein Re-Design zu vermeiden, sind »Huckepack-Lösungen«: Hat der Hersteller nur das Gehäuse eines Bausteins verändert, gibt es die Möglichkeit, die modifizierte Komponente mit einer Adapterplatine »obendrauf« zu setzen.
Um unangenehme Überraschungen durch Bauteil-Abkündigungen oder -änderungen von vorne herein zu vermeiden, empfiehlt Ermel schon möglichst früh im Entwicklungsstadium und vor allem bevor ein Produkt final qualifiziert wird, mit dem Obsolescence-Management-Prozess zu beginnen. »Der Markt bewegt sich sehr schnell, und die Grenzen zwischen Consumer– und Industrie–Komponenten verwischen immer mehr«, so Ermel. Die Folge daraus ist, dass auch die eigentlichen Industrie-Komponenten der Marktdynamik der Consumer-Bauteile unterworfen sind und die Kunden mit zahlreichen Änderungs- oder Abkündigungsmitteilungen konfrontiert werden. »Über die Summe der Bauteile gesehen, werden die Produktzyklen zwar immer kürzer, aber es gibt auch Hersteller, die diesen Negativ-Trend erkannt haben und gegensteuern«, berichtet Ermel. Gleichzeitig hätten einige Hersteller aber auch die Verfügbarkeit als Marketinginstrument für sich entdeckt, ohne ihre vollmundigen Versprechen einzuhalten, warnt Ermel. »Es ist wahrlich eine Kunst, schon beim Design-in zu wissen, welcher Hersteller es mit seinen Marketingversprechen ehrlich meint.« Um herauszufinden, ob ein Bauteil ein langfristiges Industrieprodukt ist, hilft es zu eruieren, in welchen Applikationen die Produkte eines Herstellers hauptsächlich eingesetzt werden. Ist das so einfach nachzuvollziehen für europäische Kunden? In der Halbleiterei ja, schwierig wird es dagegen laut Ermel bei Display-Lieferanten aus einigen asiatischen Regionen – da lässt es sich aus Europa nur schwer nachprüfen, wo die Ware schlussendlich eingesetzt wird. Verschärfen könnte sich die Abkündigungssituation nach den Worten von Ermel auch durch die EU-Direktive zu REACh, weil in einigen Bauteilen Substanzen enthalten sind, die unter REACh künftig verboten sind.
Weil sich die Kunden dieses Dilemmas mehr und mehr bewusst werden, nimmt auch das Interesse am Obsolescence-Management rasant zu. So verzeichnet TQ laut Ermel im bisherigen Jahresverlauf 15 bis 20 Prozent mehr Aufträge rund um das Thema »Obsolescenec-Management«. Zugenommen hat auch die Nachfrage nach der Langzeitlagerung: innerhalb eines Jahres um satte 150 Prozent. Derzeit rüstet TQ auf und baut einen dritten Lagerschrank.
Von Abkündigungen betroffen ist übrigens nicht nur die Hardware, wie Ermel zu bedenken gibt, sondern auch Software-Lizenzen werden abgekündigt. Im Durchschnitt dauert zum Beispiel die Lebenszeit eines Windows-NT-Betriebssystems 8,6 Jahre. Von solchen Software-Abkündigungen ist der EMS teilweise auch direkt betroffen, wenn er die Software für den Kunden auf dessen Endprodukt aufspielt. In solchen Fällen hilft laut Ermel nur, auf die eigene Erfahrung zu bauen und vorausschauend zu planen und genügend Lizenzen einzukaufen.