Die Elektronikbranche ist erneut ins Visier der Handelspolitik geraten. Die 2025 von der US-Regierung verhängten neuen Zölle auf Halbleiter, Lithium-Ionen-Batterien, Leiterplatten, etc. markieren den Übergang in eine neue Ära struktureller Unsicherheit in globalen Lieferketten.
Besonders betroffen: europäische Unternehmen mit starker Exportorientierung und global verteilten Beschaffungsstrukturen, die typisch für die Elektronikbranche sind. Für Einkaufsverantwortliche stellt sich dringender denn je die Frage: Wie kann ich mein Unternehmen strategisch auf diese Realität vorbereiten?
Ob 25 Prozent auf Halbleiterprodukte, 20 Prozent auf Lithium-Ionen-Batterien oder bis zu 55 Prozent auf Leiterplatten: Die neuen Zölle auf Elektronikkomponenten verändern die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fundamental. Auch wenn viele Maßnahmen vorrangig auf asiatische Hersteller abzielen, entfalten sie längst weltweite Wirkung. Hersteller in Europa spüren die Veränderungen über indirekte Kanäle: erhöhte Vorleistungskosten, längere Lieferzeiten, gestiegener Aufwand im Zoll- und Ursprungsmanagement.
Dabei zeigt sich vor allem bei Leiterplatten, wie deutlich sich solche Maßnahmen auf die Einkaufskosten auswirken können. Branchenanalysen zufolge haben die US-Zölle auf Leiterplatten aus China bei Unternehmen, die stark von diesen Lieferketten abhängig sind, zu Kostensteigerungen zwischen 18 und 25 Prozent geführt. Die Folgen sind nicht nur betriebswirtschaftlich spürbar, sondern schlagen sich auch auf die Planbarkeit von Produktions- und Entwicklungsprozessen durch.
Gerade in Deutschland, wo etwa 35 bis 40 Prozent der Elektronikexporte in die USA gehen, wirken solche Eingriffe wie ein empfindlicher Impuls in einem fein austarierten System. Viele Unternehmen berichten bereits von zunehmendem Margendruck und zurückhaltenden Absatzprognosen, insbesondere im Segment industrieller Elektronik und in der Automobilindustrie.
Umfragen des Verbands der Automobilindustrie unter kleinen und mittelständischen Automobilzulieferern zeigen: 86 Prozent erwarten negative Auswirkungen durch die neuen Handelsmaßnahmen, rund ein Drittel rechnet sogar mit direkten Geschäftsstörungen. Fahrzeughersteller wie BMW, Mercedes-Benz und Volkswagen müssen laut Bloomberg-Analysen mit einem zusätzlichen Kostenaufwand von bis zu 6.000 US-Dollar pro Fahrzeug kalkulieren.
Hinzu kommt eine wachsende Unsicherheit über mögliche Gegenzölle der EU. Auch wenn noch keine Maßnahmen beschlossen sind, steht fest: Eine Eskalation würde nicht nur Exporte belasten, sondern auch Importe. Die europäische Elektronikindustrie ist in vielen Technologiebereichen stark mit den USA verflochten. Rund 23 Prozent der Hightech-Importe der EU stammen aus den Vereinigten Staaten. Zudem kontrollieren US-amerikanische Anbieter wie Google, Microsoft und Amazon mehr als zwei Drittel des europäischen Cloud-Marktes. Die strategische Abhängigkeit Europas von US-Technologie ist hoch, mögliche Handelskonflikte könnten sich also direkt auf Innovationsprojekte, Digitalisierungsvorhaben und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auswirken.
Spätestens jetzt sollte der Einkauf in Unternehmen daher in eine Schlüsselrolle rücken. Statt sich primär auf Preisoptimierung zu konzentrieren, müssen Einkaufsabteilungen heute Resilienz, Flexibilität und geopolitische Risikosteuerung in den Mittelpunkt stellen. Entscheidend ist die Frage: Wie gestalte ich eine Lieferkette, die unter veränderten politischen, regulatorischen und ökonomischen Bedingungen stabil bleibt?
Diese Frage verlangt nicht nur operative Anpassungen, sondern strategische Entscheidungen – und sie betrifft Einkaufsteams in mittelständischen Unternehmen genauso wie globale Konzerne. Die Zeiten reaktiver Maßnahmen sind vorbei. Wer heute vorbereitet sein will, muss seine Beschaffungsstrategie vorausschauend und systematisch neu denken.
Ein zentraler Hebel liegt in der geografischen Ausgewogenheit der Lieferantenbasis. Viele Unternehmen, die in den vergangenen Jahren stark auf Asien – insbesondere China – gesetzt haben, überprüfen derzeit ihre Beschaffungsstrategien. Alternative Märkte wie Indien, Mexiko, Vietnam oder auch osteuropäische Länder rücken verstärkt in den Fokus. Dabei geht es nicht primär um niedrigere Kosten, sondern um politische Stabilität, Lieferzuverlässigkeit und regulatorische Kompatibilität.
Welche Faktoren dabei besonders zu berücksichtigen sind, gerade in der Elektronikbranche, zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie von Proxima für Beschaffungsverantwortliche, der Global Sourcing Risk Index. Untersucht wurden 30 Volkswirtschaften anhand von acht zentralen Risikodimensionen. Das Ergebnis: Eine hohe Lieferantenkonzentration, zunehmende Handelsbarrieren und geopolitische Spannungen gehören aktuell zu den größten strukturellen Risiken für Lieferketten für Elektronikprodukte.
Als Reaktion darauf gewinnt auch das Thema Nearshoring an Bedeutung. Produktions- oder Lieferbeziehungen in die unmittelbare Nähe des europäischen Markts zu verlagern, ermöglicht kürzere Reaktionszeiten, reduziert Transportkosten und minimiert Zollrisiken. Für viele Unternehmen ist es keine Rückkehr zur alten Logik der Lokalproduktion, sondern eine bewusste strategische Neugewichtung.
Lieferverträge und Partnerwahl überdenken
In einem volatilen Umfeld wie diesem wird Verlässlichkeit zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Für immer mehr Einkaufsverantwortliche lohnt es sich daher, auf langfristige Lieferverträge mit definierten Preis- und Mengenkonditionen zu setzen. Solche Vereinbarungen schaffen Stabilität – sowohl für das einkaufende Unternehmen als auch für seine Lieferpartner.
Entscheidend ist dabei die Qualität der Beziehung. Erfolgreiche Unternehmen bauen nicht nur auf Verträge, sondern auf partnerschaftliche Zusammenarbeit: Transparenz in den Kapazitäten, gemeinsame Risikoanalysen, abgestimmte Notfallpläne. Auch die gezielte Einbindung spezialisierter Logistikpartner – sogenannter Third Party Logistics Provider (3PLs) – spielt dabei eine wachsende Rolle. Sie unterstützen etwa bei der korrekten Zollklassifizierung, der Nutzung von Zolllagern (sogenannten bonded warehousing) oder bei Programmen zur Zollaufschubregelung (duty deferral) – und tragen so dazu bei, finanzielle und operative Risiken in der Lieferkette effektiv zu steuern. Der Einkauf fungiert dabei zunehmend als Vermittler zwischen technischer Machbarkeit, finanziellen Zielen und strategischer Resilienz.
Technologieeinsatz: Vom Reagieren zum Vorhersagen
Die aktuelle Situation zeigt auch: Wer frühzeitig Risiken erkennt, verschafft sich entscheidende Vorteile. Digitale Werkzeuge, insbesondere KI-gestützte Anwendungen, werden im Einkauf nicht mehr nur für die operative Effizienz eingesetzt, sondern zunehmend zur strategischen Steuerung. Sie unterstützen bei der Bewertung von Lieferantenportfolios, simulieren Szenarien wie plötzliche Zolländerungen oder Liefereinschränkungen und helfen dabei, das eigene Risikoprofil kontinuierlich zu überwachen.
In der Praxis heißt das: Einkaufsentscheidungen basieren nicht länger auf historischen Preisvergleichen, sondern auf dynamischen Risikomodellen. Damit wird der Einkauf zum Datenknotenpunkt, der geopolitische, wirtschaftliche und logistische Informationen zusammenführt und in konkrete Handlungsoptionen übersetzt.
Während jahrelang Just-in-Time als Effizienzmaß galt, kann es sich im heutigen volatilen Umfeld für immer mehr Einkaufsabteilungen empfehlen, auf Just-in-Case-Modelle zu setzen: Kritische Komponenten werden gezielt bevorratet, um bei kurzfristigen Verwerfungen im Zoll- oder Lieferumfeld handlungsfähig zu bleiben. Strategisch gepufferte Lagerbestände gewinnen so wieder an Bedeutung, nicht als Rückschritt, sondern als Ausdruck einer vorausschauenden Risikosteuerung.
Besonders deutlich zeigt sich die Verwundbarkeit globaler Lieferketten am Beispiel der Halbleiterindustrie. Sollte die angekündigte US-Zollerhöhung auf bis zu 100 Prozent tatsächlich umgesetzt werden, hätte das gravierende Folgen für die gesamte Branche, insbesondere für Länder wie Deutschland, die in hohem Maße auf Hochleistungschips aus Asien für viele elektronische Exportgüter angewiesen sind.
Die von den Zöllen betroffenen Chips im Sub-7nm-Bereich – also hochperformante Prozessoren – sind das Rückgrat vieler Zukunftstechnologien: autonomes Fahren, Medizintechnik, künstliche Intelligenz. Derzeit stammen über 60 Prozent dieser Chips aus Taiwan, Südkorea und China. Angesichts möglicher neuer US-Zölle und Exportrestriktionen drohen nicht nur Preissteigerungen, sondern auch Engpässe, die Entwicklungsprojekte verzögern und Investitionsentscheidungen bremsen.
Für deutsche Unternehmen in der Automobil- und Elektronikindustrie bedeutet das: Frühzeitige Beschaffungsstrategien sind nicht optional, sondern überlebensnotwendig. Denn auch wenn Reshoring für einige Unternehmen der strategisch sinnvolle Schritt sein mag, neue Fertigungskapazitäten in Europa oder den USA entstehen nicht über Nacht. In der Regel vergehen fünf bis sieben Jahre, bis ein neues Halbleiterwerk in Betrieb geht. Wer jetzt nicht vorausschauend plant, wird später kaum reagieren können.
Die aktuellen Entwicklungen zeigen eindrücklich, dass der Einkauf nicht länger nur operativer Kostenfaktor ist, sondern strategischer Hebel für Stabilität, Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftssicherung. Unternehmen, die ihre Lieferketten jetzt aktiv umbauen, schaffen sich Spielräume in einem zunehmend begrenzten globalen Umfeld.
Dabei geht es nicht darum, jede Unsicherheit auszuschließen. Es geht darum, flexibel zu bleiben: durch Diversifizierung, verlässliche Partnerschaften, intelligente Technologien und strategische Weitsicht. Wer das versteht, wird nicht nur robust durch die aktuelle Phase kommen, sondern gestärkt aus ihr hervorgehen.
Zum Autor
Al Maranon ist Senior Consultant bei Proxima, einer internationalen Beratung für Einkauf und Lieferkettenmanagement, und ausgewiesener Experte für Procurement im Technologie- und Elektroniksektor. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung im Einkauf und in der Lieferkettenoptimierung – insbesondere in technologiegetriebenen Branchen. Sein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung belastbarer Beschaffungsstrategien, Kostenoptimierung und dem Aufbau widerstandsfähiger Liefernetzwerke unter volatilen Marktbedingungen.