Einkauf setzt auf Diversifizierung

»Im Umgang mit China muss man mehr Realismus an den Tag legen«

6. April 2023, 12:05 Uhr | Karin Zühlke
© Maksym Yemelyanov/stock.adobe.com

Der Expertenkreis China im Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) hat im März untersucht, wie und ob sich der Stellenwert Chinas für die Beschaffung verändert hat – mit durchaus überraschenden Ergebnissen.

Der Expertenkreis China besteht aus 46 mittelständisch geprägten Industriebetrieben. Diese verfügen insgesamt über ein jährliches Einkaufsvolumen von rund 11,0 Milliarden Euro. Die Ergebnisse der duchgeführten Analyse zeigen klar, dass China auch nach den Lieferketten-Kapriolen der Pandemie-Jahre als verlässlicher Partner in der Lieferkette wahrgenommen wird. »Für die meisten Unternehmen ist ein Rückzug aus dem chinesischen Markt derzeit kein Thema«, so die Schlussfolgerung des BME-Expertenkreises. Das Potenzial des chinesischen Beschaffungsmarktes sieht der Kreis noch lange nicht ausgeschöpft, obwohl die Herausforderungen im Umgang mit China vielschichtig sind.

Anders verhielt sich das noch zu Beginn und während der Hochphase der Corona-Pandemie. Aufgrund massiver Verwerfungen in den globalen Lieferketten – vor allem bedingt durch Chinas Null-Covid-Strategie – wurden vielerorts deutliche Forderungen nach einem Umdenken bei der Beschaffungspolitik laut: Europa solle sich unabhängig von dominierenden Märkten wie China machen. Nicht zuletzt ist auch der European ChipsAct eine Konsequenz daraus. Doch inzwischen haben die Auswirkungen der chinesischen Null-Covid-Politik stark nachgegeben. Die exorbitant hohen Preise für Fracht und Container haben sich wieder eingependelt.

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Kurto Riccardo
Riccardo Kurto, Leiter des BME-Büros China: »Im Umgang mit China muss man mehr Realismus an den Tag legen.«
© Jochen Günther/BME e.V.

»Mit Hinblick auf die Geschäftsaktivitäten mit China spiegelt sich Optimismus in den Unternehmen wider«, unterstreicht Riccardo Kurto, Leiter des BME-Büros China. Zwar hätten alle Firmen ihre Lieferanten aus China einem 360-Grad-Check unterworfen, aber eine Abkehr von der Beschaffung aus China sei damit nicht verbunden. »Im Umgang mit China muss man mehr Realismus an den Tag legen«, fordert Kurto.

»Denn zweifelsohne ist die deutsche Wirtschaft maßgeblich darauf ausgelegt, in und mit China zu wachsen. Wenn man sich ansieht, dass manche Firma 30 bis 40 Prozent ihres EBIT in China erwirtschaften, werden die Verflechtungen sehr deutlich.« Den vorläufigen Destatis-Ergebnissen zufolge wurden allein im vergangenen Jahr Waren im Wert von 298,2 Milliarden Euro zwischen Deutschland und China gehandelt. China ist damit zum siebten Mal in Folge Deutschlands größter Handelspartner. »Das ist eine Tatsache, die nicht von heute auf morgen zu kippen ist«, stellt Kurto klar. Ungeachtet dessen und die Dynamik in China vor Augen, verfolgen die Firmen die Entwicklungen und damit einhergehend die Optionen in der ASEAN-Region aufmerksam.

Aufbau alternativer Lieferantenstrukturen schwierig

Der BME-Expertenkreis China hat darüber hinaus potenzielle Märkte Südostasiens näher untersucht, die als Ausweichstandort an Bedeutung gewinnen können. Anhand eines nach »politischer Stabilität« und »Marktpotenzial« ermittelten Rankings zeigt sich, »wie komplex und ressourcenintensiv der Aufbau alternativer Lieferantenstrukturen zum bestehenden Geschäft in China ist.

Im Vergleich zu einer vollständigen Verlagerung dieser Aktivitäten in einen neuen Markt und der Etablierung auf diesem scheint das kurzfristige Verfehlen von Gewinnzielen noch ein akzeptables Szenario zu sein«, schildert Kurto. In jedem Fall wägen die Firmen sehr genau ab, ob sich diese Investitionen lohnen. »Betrachtet man Länder wie Vietnam, Kambodscha oder Thailand, ist das eine sehr heikle Angelegenheit, weil man auch nicht weiß, was man bekommt; so zumindest ist das Bild der Einkaufsverantwortlichen.«

Über Jahrzehnte aufgebaute Strukturen und Partnerschaften ließen sich weder kurz- noch mittelfristig durch geeignete alternative Produktionsstandorte und Beschaffungsmärkte ersetzen. Zudem sei Reshoring und damit die Rückverlagerung von Fertigungsstätten nach Europa kostspielig und häufig mit deutlichen Preissteigerungen verbunden. Entschieden sich in China aktive Unternehmen doch dazu, stünde das in Jahrzehnten zu ihren Geschäftspartnern aufgebaute Vertrauen auf dem Spiel.

China verfügt über eine gut ausgebaute Infrastruktur und enge Supply-Chains. Ausländische Fabriken können nahezu sämtliche Vorprodukte günstig und rasch vor Ort einkaufen. Das einheimische Lieferantennetzwerk wird vom BME-Expertenkreis als der größte Standortvorteil Chinas eingestuft. Kurto: »Tatsächlich reagieren einige vor Ort tätige westliche Firmen auf die globalen Entkopplungstendenzen nicht mit Rückzug, sondern teils mit stärkerer Lokalisierung ihrer Produktion in China.«

Europa ist zu teuer

Und was ist mit Europa als Alternative für die Beschaffung? Vorausgesetzt in Europa wird das produziert, was der Einkauf benötigt: »Bei einer Rückverlagerung nach Europa ist mit deutlichen Preissteigerungen zu rechnen«, so der China-Experte des BME. Und gefragt nach dem Standort Deutschland, antwortet Kurto: »Allein im Hinblick auf die Lohnkostenpolitik ist der Standort Deutschland keine wirkliche Ersatzoption. Auch die Rohstoffsituation – viele der wichtigsten Rohstoffe für die Produktion sind in China – tut ihr Übriges.«

Eskalation in Taiwan kann zum Game-Changer werden

Aber auch das ist ein Ergebnis der Analyse: Taiwan rückt verstärkt in den Fokus des Risikomanagements von Unternehmen. Die Risiken und Auswirkungen einer politischen Eskalation in Taiwan bleiben laut Kurto weiter im Fokus von strategischen Überlegungen der Firmen, insbesondere im Hinblick auf die Halbleiterindustrie: »Eine politische Eskalation der Situation in Taiwan hätte das Potenzial des Game-Changers bei der Geschäftspolitik mit China.«

Das Land ist ein wichtiger Vorlieferant in globalen Lieferketten, vor allem in der Elektronik. 64 Prozent der weltweit im Auftrag gefertigten Chips kommen nach den Zahlen des BME aus Taiwan. Taiwan Semiconductor Manufacturing (TSMC) ist hinter Intel und Samsung der drittgrößte Hersteller von Halbleitern und deren weltweit größter Auftragsfertiger. 2021 betrug der globale Umsatz der Halbleiterindustrie 556 Mrd. US-Dollar. Und der größte lokale Markt für Halbleiter bleibt der chinesische mit einem Umsatz von knapp 193 Mrd. US-Dollar.


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Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME)