Auch in der Distribution ist der Trend gen Osten unübersehbar. Heute wird zwar ein großer Teil der Umsätze in Polen, Rumänien, Ungarn und anderen Ländern mit Transfergeschäft von OEMs und EMS-Unternehmen erzielt (hauptsächlich aus Skandinavien, Frankreich, England und zunehmend aus Spanien und Italien), doch gerade in Polen wachsen lokale Kunden überproportional. Russland ist ohnehin mehr durch die heimische Industrie getrieben und hat sich als der fünftgrößte Markt für Komponenten in Europa etabliert – vor Israel, Schweiz oder Schweden. Wenn Mittel- und Osteuropa derzeit knapp 50% des europäischen Distributionsmarktes darstellen, kann dies in wenigen Jahren auf 60% klettern.
Die Frage, was dies für die Industrie heißt, ist noch zu beantworten, klar ist jedoch schon, dass viele westeuropäische Volkswirtschaften sich Gedanken machen müssen, inwieweit sie sich mit der High-Tech-Thematik in den verschiedenen Facetten auseinandersetzen wollen, denn es hängt nicht nur an der Industrie, hier international wettbewerbsfähig zu sein. Es gibt auch makroökonomische und gesellschaftliche Aspekte, die eine Rolle spielen. Hier sind einige Trends, die es industrie- wie unternehmenspolitisch zu managen gilt:
## Makroökonomisch droht weiterhin die Euro-Krise und im weiteren Sinn die gesamtwirtschaftliche Krise Europas, deren Impact auf unsere Industrie nicht absehbar ist, deshalb sind weitere Ausführungen dazu auch nicht sinnvoll.
## Der Elektronikmarkt bleibt bei seinem zyklischen Verhalten wie immer abhängig von der weltweiten Nachfrage oder ihrer Abwesenheit. Europa bleibt ein nachgeordneter Markt, der in punkto Versorgung substrategisch ist.
## Innovation spielt zwar in Europa eine große Rolle, und gerade viele Distributionskunden stehen mit ihren Produkten im globalen Wettbewerb, doch es gibt keine stringente Innovationskultur in Europa, noch gibt es eine vernünftige Strukturpolitik – eher ein Sammelsurium an Einzelinteressen, die niemanden lange nützen, wie die Solarbranche zeigt.
## Die Überregulierung, sei es im Steuerbereich, bei produktbezogenen Vorschriften (Umwelt und Sicherheit) oder in der Produktion und der Verteilung von Gütern, macht teilweise den Import von Endprodukten einfacher als die Herstellung vor Ort. Absurdistan vor der Haustür.
## Last but not least droht das Überthema »Compliance«, von der Rückverfolgbarkeit über die Transportsicherheit und die Importproblematik bis zur Exportkontrolle.
Mikroökonomisch (oder mikroelektronisch), also innerhalb der Branche, gibt es ebensolche Trends: Die zunehmende Komplexität von Elektronik und das zunehmende Angebot an Technologie erfordern bereits im Design ein Denken vom Ende her (Life-Cycle-Management). Distributoren sind damit gefordert, eine andere, neue Dienstleistungsqualität zu bieten – in der technischen Beratung ist mehr echte Lösungskompetenz gefragt (Software), in der Logistik ein umfassenderes Supply-Chain-Verständnis.
Ein weiterer Punkt ist das Verständnis für Endkundenmärkte – Marktpotential, Wachstumssegmente, Innovationstrategien. Eine Bill of Material abzuarbeiten, reicht nicht mehr. Kann ein Distributor Märkte machen? Kann er vertikale Segmente aufbauen, von der Marketing-Idee über die Refokussierung von Technologiekompetenz bis zu günstigen finanziellen und logistischen Modellen?
Zu guter Letzt gibt es ein Thema, das nicht nur ein Problem der Branche, sondern ein gesamtgesellschaftliches Dilemma darstellt: der Nachwuchs! Europa hat der Überalterung seiner Ingenieure nichts entgegenzusetzen. Der Altersdurchschnitt bei Entwicklungsingenieure liegt jenseits der 45, Nachwuchs ist immer weniger zu finden. Während China und Indien jedes Jahr Legionen von Elektronikspezialisten ausbilden, wird die Zahl der entsprechenden Hochschulabsolventen in Europa immer kleiner. Um die wenigen Anwendungsspezialisten konkurrieren heute Hersteller, Kunden und Distributoren gleichermaßen.
Hier sind wir wieder bei einer Innovationskultur mit begleitender Bildungspolitik. Natürlich wachsen auch in China oder Indien die Bäume nicht in den Himmel, was den Nachwuchs angeht, zumal diese Ländern nach wie vor viel intellektuelles Kapital an die USA verlieren. Aber dort wachsen die Bäume wenigstens, um im Bild zu bleiben. Hierzulande bleibt nur die Hoffnung, dass die letzte Bastion – die Entwicklung – nicht auch noch fällt. Denn dann würde Europa als potentieller Markt endgültig abdanken.