Die Halbleiterindustrie erlebt bedeutende Veränderungen, vor allem durch komplexe Lieferketten und geopolitische Unsicherheiten. Wie sieht die strategische Rolle der Distribution in diesem Kontext aus? Brian Wilken, VP Strategic Planning bei Avnet in EMEA, beleuchtet Herausforderungen und Chancen.
Markt&Technik: Die Distribution von elektronischen Bauelementen hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Welche Aufgaben umfasst sie heute?
Brian Wilken: Die Distribution hat sich von der reinen physischen Bewegung von Produkten zu einer umfassenderen Rolle entwickelt. Heutzutage beinhalten die Aufgaben der Distributoren nicht nur die Logistik, sondern auch die Planung, Steuerung und Optimierung von Lieferketten weltweit.
Die Halbleiterindustrie spielt eine entscheidende Rolle im technologischen Fortschritt. Wie gestaltet sich die Herausforderung der Lieferketten für die Distribution in Europa?
Die Herausforderung in Europa liegt in einem vergleichsweise kleinen Markt mit vielen Varianten in verschiedenen Branchen, der auf einen globalen Volumenmarkt trifft. Distributoren fungieren hier als Mittler zwischen den spezifischen Anforderungen der europäischen und globalen Märkte, was eine besondere Herausforderung, aber auch ein Alleinstellungsmerkmal der Distribution darstellt.
Wie reagiert die Halbleiterindustrie auf geopolitische Unsicherheiten, insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den USA und China?
Die Halbleiterindustrie reagiert durchaus proaktiv auf geopolitische Unsicherheiten, insbesondere im Kontext der US-chinesischen Beziehungen. Die Handelskonflikte haben Unternehmen dazu veranlasst, ihre Lieferketten zu überdenken und verstärkt auf die Kontrolle über Tools zur Herstellung von Chips zu setzen, um Exportbeschränkungen zu begegnen.
Welche Rolle spielen Umwelt-, Sozial- und Governance-Prinzipien, kurz: ESG, in der Halbleiterindustrie, und wie gehen Unternehmen damit um?
ESG-Prinzipien gewinnen in der Halbleiterindustrie an Bedeutung. Unternehmen investieren in strategische Diversifizierung und verbessern die Transparenz in ihren Lieferketten, um sich den Herausforderungen durch Klimaauswirkungen und soziale Verpflichtungen zu stellen.
Wie beeinflusst die Globalisierung die Halbleiterindustrie, und welche Auswirkungen hat sie auf die Lieferketten?
Die Globalisierung hat der Halbleiterindustrie erheblich genutzt, indem sie Skaleneffekte durch die Verteilung hoher Fixkosten ermöglicht. Sie beschleunigt die technologische Übernahme und gewährleistet die weltweite Standardisierung von Innovationen. Die »China plus«-Strategie, die über China hinaus diversifiziert, ist eine Reaktion auf geopolitische Dynamiken und eröffnet neue Märkte.
Welche legislativen Schritte werden weltweit unternommen, um die Halbleiterindustrie zu stärken?
Die USA haben das CHIPS-Gesetz eingeführt, um ihre Halbleiterindustrie zu revitalisieren und die wirtschaftliche sowie nationale Sicherheit zu stärken. Diese Gesetzgebung war eine Reaktion auf Bedenken im Zusammenhang mit den abnehmenden inländischen Halbleiterproduktionskapazitäten der USA und auf die Herausforderung, in der globalen Halbleiterlandschaft einen Wettbewerbsvorteil zu behalten.
Europa antwortet darauf mit Initiativen wie dem Digital Compass, die bis 2030 das Ziel setzt, 20 Prozent aller weltweit produzierten Halbleiter zu produzieren. Dieser Schritt zeigt das Bekenntnis Europas, seine Position in der Halbleiterbranche zu stärken und Abhängigkeiten zu reduzieren.
Wie positioniert sich Europa in diesem komplexen Umfeld der Halbleiterindustrie, und welche strategischen Initiativen ergreift es?
Europa betont sein Engagement für Innovation, Forschung und Entwicklung. Die Digitalstrategie der Europäischen Union, Partnerschaften mit anderen Regionen wie Taiwan und das Ziel, bis 2030 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion zu übernehmen, zeigen das Bestreben, die Position in der Branche zu stärken.
Die digitale Strategie der Europäischen Union hat außerdem maßgeblich dazu beigetragen, die Richtung der Halbleiterindustrie in der Region zu prägen. Mit Fokus auf Forschung, Entwicklung und Innovation konnte Europa auch angesichts zunehmender Konkurrenz aus Asien und Nordamerika einen Wettbewerbsvorteil behaupten.
Sie gehen also nicht davon aus, dass Europa – wie von einigen Experten befürchtet – eher bedeutungslos ist bzw. wird für die Halbleiterindustrie?
Nein. Europa ist seit Langem ein bedeutender Akteur in der globalen Halbleiterindustrie, mit einer reichen Geschichte von Innovationen und technologischen Fortschritten. Seine strategische Lage, die Ost und West verbindet, positioniert es einzigartig in der globalen Lieferkette und ermöglicht sowohl Import- als auch Exportvorteile.
Dennoch gibt es große Herausforderungen für Europa in der Halbleiterindustrie. Wie soll denen begegnet werden?
Europa sieht sich in der Tat Herausforderungen wie kontinuierlicher Innovation, Anpassung an sich schnell ändernde Technologien und Navigation durch geopolitische Spannungen gegenüber. Mit einer robusten Infrastruktur und hochqualifizierten Fachkräften plant Europa, diesen Herausforderungen durch proaktive Planung und Innovationsengagement zu begegnen.
Abschließend: Wie gestaltet sich die Rolle von Distributoren wie Avnet in diesem dynamischen Umfeld der Halbleiterindustrie?
Distributoren wie Avnet spielen eine entscheidende Rolle als strategische Partner, die den nahtlosen Übergang von Halbleiterkomponenten von Herstellern zu Endverbrauchern erleichtern. Neben der Logistik gewährleisten sie die Produktintegrität und Qualität in der Lieferkette, bieten Bestandsmanagement und technische Unterstützung, um Hersteller und Verbraucher bei der Navigation durch den komplexen Halbleitermarkt zu unterstützen. Avnet betont die Bedeutung von Anpassungsfähigkeit und Weitsicht, um Lösungen anzubieten und Kooperationen zu fördern.