Kann ein aufwändiges Frühwarnsystem die Lieferkette deutlich verbessern? Zumindest die Teilnehmer der abschließenden Podiumsdiskussion des »Markt&Technik Supply Chain Summits« glauben das nicht. Sich allein auf Forecasts zu verlassen, reicht jedenfalls nicht. Entscheidend ist vielmehr, die Aktivitäten und das Bestellverhalten der Kunden sehr genau zu beobachten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Allein der Begriff »Frühwarnsystem« erscheint angesichts der hemdsärmligen Forecast-Systematik vieler Unternehmen zu hoch gegriffen, zumal entlang der Lieferkette kein einheitliches Verständnis herrscht, wie so ein Frühwarnsystem überhaupt aufgebaut sein soll. Schnell wird in der Diskussionsrunde klar, dass jedes Unternehmen seine individuelle Strategie verfolgt, wie es bestimmte Indikatoren wertet. Indikatoren können Prognosen der Marktforscher, Forecasts oder auch das Bestellverhalten der Kunden sein.
Avnet zum Beispiel beobachtet die Umsatzbewegungen der Kunden, die aber auch mal von + bis – 30 Prozent variieren können, zusammen mit der Roadmap des Kunden. Denn sich alleine auf den Forecast der Kunden zu verlassen, sei gefährlich, warnt Georg Steinberger, Vice President Communications bei Avnet Electronics Marketing EMEA: »Wenn man jeden Forecast für bare Münze nimmt, bekommt man kein realistisches Bild.« So versucht Avnet mit Hilfe der gewonnen Erkenntnissen zumindest über einen Zeitraum von drei bis vier Monaten eine gewisse Transparenz zu schaffen, um besser einschätzen zu können, wohin sich der Kunde und mit ihm das Bestellvolumen entwickelt. – Solche firmenindividuellen Modelle basieren aber vor allem auf Daten aus der Vergangenheit, analytische Zukunftsprognosen hingegen bleiben viele dieser Ansätze schuldig.
Aber auch noch so komplexe Analysesysteme sind keine Garantie für eine richtige Prognose, bestätigt Dr. Ulrich Schaefer, Director Market Research bei Robert Bosch: Zahlenmodelle und Hochrechnungen alleine reichen nicht aus, um eine Marktentwicklung vorherzusagen. Da spiele viel Erfahrung mit, so Schaefer. »Man muss ein Gefühl für Prognosen entwickeln und das in die Vorhersage mit einbeziehen.« Ganz ohne Marktforschung geht es aber auch nicht: Dass viele Unternehmen mit ihrem Forecast derart danebenliegen, liege vielfach auch daran, dass die Firmen sich davor scheuen, das Geld für eine Marktforschungsabteilung in die Hand zu nehmen oder in neue Methoden zu investieren, erklärt Schaefer.
Selbst die komplexesten Analysen und Prognosemodelle der Marktforscher sind nicht der Weisheit letzter Schluss und bieten in Extremsituationen wie der Krise 2009 keine Planungssicherheit. »Allein die Zahlen von Dataquest zeigen, dass man auch mit Komplexität am Ende um die Hälfte danebenliegen kann«, gibt Steinberger zu bedenken. »Die meisten Frühwarnsysteme bieten beliebig viel Spielraum für Irrtümer.«
Ließe sich nicht ein Ideal-Prognosemodell herausarbeiten und über die Lieferkette standardisieren? Nach Ansicht von Jürgen Weyer, Vice President Automotive EMEA bei Freescale, bringen solche Überlegungen nichts: »Die Sirene, die uns signalisiert, dass etwas passiert oder DAS einzig wahre Frühwarnsystem gibt es meiner Meinung nach nicht, und ich würde auch nicht in ein solches System investieren.« Weyer sieht sein Frühwarnsystem in der Erfahrung, dem Know-how und dem Zusammenspiel seiner Verkaufsmannschaft. »Es gibt laufend Signale, und es gab auch vor dem letzten Abschwung viele Signale», ist Weyer überzeugt. »Die Frage ist ja nicht, dass solche Signale nicht vorhanden sind, sondern wie werte ich diese Signale aus?« Es gelte vielmehr, die Situation des Kunden realistisch einzuschätzen und sich bei Bedarf auch mal über den Kunden hinwegzusetzen bzw. zumindest die Kundenangaben in Frage zu stellen. »Der Kunde ist oft felsenfest davon überzeugt, dass seine Zahlen stimmen, auch wenn es offensichtlich ist, dass der Forecast nicht stimmen kann«, so Weyer.
Eine halbwegs realistische Prognose scheint also durchaus kein Hexenwerk zu sein, wenn man die Signale aufnimmt und richtig interpretiert. Allein am Vertrauen in der Lieferkette hapert es noch, beklagt Erwin Luginsland von Avnet: »Die Frühwarnsysteme auf operativer Ebene sind ja vorhanden. Natürlich haben wir das sofort festgestellt, als die Book-to-Bill nach oben gegangen ist. Wir erkennen schließlich, wie sich ein Forecast von einer zur anderen Woche verändert und können diese Indikatoren auch interpretieren und weisen unsere Kunden darauf hin.« Wenn es allerdings darum geht, dass der Kunde sein Bestellverhalten daraufhin anpasst, beiße man doch in vielen Fällen noch auf Granit. »Die Kunden haben uns schlichtweg nicht geglaubt, sondern gedacht, wir wollen nur unsere Auftragsbücher füllen«, so Luginsland. Will die Signale also einfach niemand hören? Der wichtigste Faktor ist auch in diesem Fall der Mensch in der Lieferkette, und dessen Schmerzgrenze scheint noch nicht erreicht. Denn gegen die Beratungsresistenz ist auch kein noch so ausgefeiltes Frühwarnsystem gefeit.