Weltweit gibt es praktisch keine Fahrzeuge, die für die spezifischen Anforderungen von Schwellenländern entwickelt wurden. OX Delivers ist angetreten, diese Lücke zu füllen.
3,4 Milliarden Menschen weltweit haben keinen Zugang zu motorisierten Verkehrsmitteln. Ein Drittel von ihnen lebt in Afrika, südlich der Sahara. Für sie bedeutet das eine massive Einschränkung der Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn zum Beispiel ein Bauer in Ruanda seine Produkte über weite Strecken ins nächste Dorf tragen muss, um sie dort auf dem Markt verkaufen zu können, dauert das nicht nur signifikant länger als mit dem Auto, sondern begrenzt auch stark die Menge, die er verkaufen kann.
Um das zu ändern, wurde 2013 die gemeinnützige Organisation »Global Vehicle Trust« gegründet. Diese beauftragte den südafrikanisch-britischen Autodesigner »Gordon Murray Design« mit der Entwicklung des OX-Prototypen. Dieser Lkw sollte kostengünstig, geländegängig und einfach reparierbar sein sowie eine hohe Ladekapazität haben.
Daraufhin wurden vier Prototypen eines Diesel-Lkw als sogenannte Flat-Pack-Produkte gebaut. Sie werden in einem flachen Paket verschickt und vor Ort aufgebaut. Der OX-Lkw bestand aus Paneelen, die durch einen Stahlrahmen verbunden sind. Doch selbst bei günstigster Herstellung war er zu teuer für die Endkunden.
Um das gescheiterte Projekt zu retten, gründete sich OX Delivers im Jahr 2020 mit dem Ziel, durch die Umwandlung des OX Diesel-Lkw in ein Elektrofahrzeug ein skalierbares Geschäftsmodell zu schaffen. Denn Elektrofahrzeuge haben eine höhere Leistungsausbeute als solche mit Verbrennungsmotor, die zudem ohne Gangschaltung besser steuerbar ist und mehr Kraft auf die Räder bringt. Außerdem sind Elektrofahrzeuge einfacher und günstiger in der Wartung. Organisationen wie US AID, Innovate UK und das Advanced Propulsion Centre haben die Umrüstung finanziell unterstützt.
Weil auch ein Elektro-Lkw für die meisten Kunden in Schwellenländern zu teuer ist, entwickelt OX Delivers diesen nicht für den Verkauf, sondern um den Platz darauf zu vermieten – oder wie es das OX-Team nennt: ein Uber für Kartoffeln. Die Fahrer sind Mitarbeiter der Firma und erhalten einen fairen Lohn sowie Essen, Unterkunft und nach Bedarf Kinderbetreuung, um speziell Frauen zu unterstützen. Denn der jungen Firma liegt es am Herzen, eine positive soziale Wirkung zu erzielen.
Durch dieses Geschäftsmodell änderte sich die Art der Entwicklung komplett, weil die Reparatur- und Wartungsfähigkeit sowie die Betriebskosten über die Lebensdauer des Fahrzeugs hinweg eine erheblich größere Rolle spielen als bei Fahrzeugen, die für den Verkauf konzipiert sind.
Das Entwicklungsteam unterteilte den Lkw hierfür nicht wie üblich in Innen- und Außenraum, Fahrgestell etc., sondern in Module, die kleinere Fahrzeugabschnitte umfassen. Das Ziel: Wenn an einer Stelle eines Fahrzeugs etwas kaputt geht, lässt sich das Modul einfach ersetzen. »Ein gutes Beispiel hierfür ist die vordere Crash-Struktur. Ein Teil des Fahrerhauses ist komplett angeschraubt, dieser soll den Großteil eines Aufpralls auffangen und so die Hauptstruktur schützen. Er lässt sich leicht abnehmen und wieder anbringen, so dass auch ein großer Aufprall nicht gleich auf das Fahrgestell durchschlägt und die gesamte Struktur beschädigt«, erklärt Kristiana Hamilton, Mitglied des 14-köpfigen Design- und Ingenieurteams von OX Delivers.
Ein Pilotprojekt läuft derzeit in Ruanda. Der auf Elektroantrieb umgerüstete Diesel-Lkw, der OX 1, wurde für Tests dorthin verschifft. Es stellte sich jedoch heraus, dass die zentrale Fahrposition, für die Gordon Murray bei seinen Sportwagen bekannt ist, auf den Straßen Ruandas nicht zulässig ist. So wurde das Pilotfahrzeug noch am Hafen von der Mittel- auf Linkssteuerung umgerüstet.
Die Testfahrten vor Ort zeigten weitere Optimierungsansätze: Die Sitzbank bot den Fahrern auf den unebenen Straßen keinen Halt. Zudem war sie aufgrund fehlender Verstellmöglichkeiten sehr unbequem für die Menschen in Ruanda, weil die meisten von ihnen deutlich kleiner sind als Europäer. Hinzu kommen die Straßenverhältnisse: Von einer asphaltierten Straße kann es direkt auf eine unbefestigte Straße mit viel Staub, losem Schotter und Schlaglöchern gehen.
Das Fahrgestell war relativ robust, aber nach Tests vor Ort in Ruanda entdeckte das Ingenieurteam schnell einige Probleme, insbesondere mit Rissen. Zudem war es nicht so beschaffen, dass es leicht zu reparieren war. Weil OX Delivers die Lkw selbst betreiben wird, anstatt sie zu verkaufen, ist die Betriebszeit entscheidend.
Die ursprüngliche Stahlkastenprofilkonstruktion funktioniert gut – bis man Reparaturen durchführen muss – auf einem Markt, auf dem man nur gebogene Bleche kaufen kann. Denn dadurch ist es schwierig, ein komplettes Kastenprofil herzustellen und es ausreichend stabil zu machen.
Auf Basis des Feedbacks aus Ruanda optimiert das Team von OX Delivers in Großbritannien das Design des Lkw fortlaufend. »Wir durchlaufen derzeit eine Iteration des Fahrgestells und gestalten das Ganze schrittweise um, damit es besser zu unserem Markt passt und leicht repariert werden kann«, beschreibt Kristiana Hamilton.
Das Team arbeitet in einem iterativen Prozess nach dem Fail-Fast-Ansatz: Funktionierte etwas nicht, analysiert das Team, was besser funktionieren könnte, testet dies und wiederholt den Prozess, bis das Design perfektioniert ist. »Wir arbeiten in einer agilen Umgebung mit zweiwöchigen Sprints. Wenn wir während eines Sprints auf etwas stoßen, das nicht funktioniert, können wir einfach die Richtung ändern«, erklärt Hamilton.
Hierfür nutzt das Team Onshape, die Cloud-native Produktentwicklungsplattform von PTC, weil diese einen agilen und kollaborativen Designprozess unterstützt. Sie beinhaltet ein leistungsstarkes CAD und PDM (Produktdatenmanagement). »Nicht alle Ingenieure bei OX Delivers waren mit CAD oder PDM vertraut. Aber Onshape war für alle einfach zu handhaben«, so Hamilton.
Weil die CAD-Lösung Cloud-basiert ist, kann das britische Team in Echtzeit mit den Teammitgliedern in Ruanda und externen Partnern zusammenarbeiten. Alle können auf die neuesten Daten zugreifen und diese aktualisieren. Bei CAD- und PDM-Systemen, die auf Legacy-Dateien basieren, müssen Dateien hierfür gesperrt und ausgecheckt werden. Das bedeutet, dass immer nur eine Person an einer Datei arbeiten kann. Mit Onshape gibt es keine Checkout-Prozesse, sodass alle zur gleichen Zeit in einer Datei arbeiten können. Dadurch lassen sich Aufgaben aufteilen und im Kontext der Arbeit der anderen erledigen, was den Prozess erheblich beschleunigt.
Auf Basis der Daten aus Ruanda hat das OX-Team die Originalkabine umgestaltet. Gemeinsam mit den EV-Experten für Antriebsstrang- und E-Antriebssysteme von der Firma Dana wurde eine elektronische Antriebseinheit (EDU) entwickelt und die Fahrzeugarchitektur von einem Front- zu einem leistungsfähigeren Hinterrad-Antrieb geändert, der sich optional auf Allradantrieb umstellen lässt. Das Antriebsstrang-Team hat neue Halterungen für die überarbeitete EDU entwickelt. Die Ideen wurden schnell in Onshape ausgearbeitet, in Onshape Simulation getestet und mehrmals überarbeitet, bevor physische Prototypen hergestellt wurden.
Ein Konstrukteur des ruandischen Teams konzentriert sich auf die Ladefläche des Lastwagens. Hier wird viel Arbeit investiert, um sicherzustellen, dass sie die richtige Größe hat und mit allen nötigen Werkzeugen ausgestattet ist – inklusive einer Waage, sodass der Lkw nicht überladen wird.
Außerdem unterstützen die OEMs Penso und Potenza das OX-Team bei der Weiterentwicklung des Lkw-Designs und testen einige Prototypen und Systeme auf den physischen OX-Testeinheiten. Sie wollen soweit möglich mit den neuesten CAD-Daten arbeiten. Da die großen OEMs in der Regel Catia oder NX nutzen, importiert OX meist STEP-Dateien in Onshape. Penso ist noch einen Schritt weiter gegangen: Zwei seiner Ingenieure modellieren Dateien aus dem ursprünglichen Catia-Format direkt in Onshape.
Derzeit ist eines der britischen Teammitglieder in Ruanda, um Konstruktionsdaten aus dem Feld zu sammeln, von Echtzeit-Feedback aus Tests verschiedener Betriebszyklen bis hin zu Informationen über Wartungsprobleme.
Designer und Ingenieure aus Großbritannien machen sich in Ruanda regelmäßig ein Bild vom Markt, den Bedingungen und Kunden, während Mechaniker aus dem ruandischen Team nach Großbritannien reisen, um die erforderliche Hochspannungsschulung für die Wartung der E-Lkw zu absolvieren. Die Lkw werden in Großbritannien gebaut und per Flat-Pack-Lieferung nach Ruanda geschickt, wo sie vom dortigen OX-Team zusammengebaut werden. Dort wird bereits über die Weitergabe von Montageanleitungen nachgedacht, die die vorhandenen CAD-Daten nutzen.
»Die Menschen in Ruanda sind so fleißig und so leidenschaftlich bei dem, was sie tun. Und es ist wirklich schön zu sehen, dass wir etwas bewirken«, schildert Kristiana Hamilton abschließend. »Es ist so einfach, etwas mit Impact zu tun, vor allem wenn man in Großbritannien lebt und so privilegiert ist wie ich und viele von uns bei OX.«
Der erste Kunde war eine Kaffeefirma, für die zwei Lkw den Transport übernommen haben. Inzwischen verfügt OX über vier Fahrzeug-Depots und hat über zweitausend Kunden geholfen, 13.000 Tonnen Waren zu bewegen.
Kristiana Hamilton, Ingenieurin bei OX Delivers, hat sich bereits mit 11 Jahren für das Konstruieren interessiert. In der Schule in Schottland hat sie das Fach »Graphic Communication« belegt und CAD-Zeichnungen sowie Rendern gelernt. Von da an wollte Kristiana nichts anderes mehr machen. An der University of Warwick studierte sie Automotive Engineering. Nach Stationen bei Nissan und einer Beratungsfirma kam sie zu OX, weil sie hier Menschen helfen kann.
Auch Natalie Dowsett, Gründerin und Head of Business Growth bei OX Delivers, hat schon im Alter von 11 Jahren beschlossen, Autoingenieurin zu werden – das 24-Stunden-Rennen von Le Mans hat ihre Leidenschaft für Fahrzeuge und Technik geweckt. Natalie studierte Maschinenbau und hat bei Jaguar Land Rover einige Jahre als Ingenieurin für Gehäuse gearbeitet. Dann wechselte sie in die Geschäftsstrategie und hat Business Cases für Fahrzeuge der Zukunft erstellt. Nach der Geburt ihrer Kinder wollte Natalie nicht noch mehr Produkte für Menschen entwickeln, die schon so viel haben. Zusammen mit einem ehemaligen Kollegen von Jaguar Land Rover begann sie 2020 mit der Entwicklung des OX Lkw und gründete 2020 OX Delivers.
Bernhard Eberl
ist Onshape Education Customer Success Director Europe und PTC Wellness Ambassador.