Automobilhersteller müssen sich neu erfinden: vom Fahrzeughersteller zum Anbieter digitaler Mobilitätslösungen. Innovative Geschäftsmodelle sind der Schlüssel, um Kund:innen in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen nahtlose Interaktionen zu bieten – vom Kauf bis zum Service und während der Fahrt.
Neben innovativen Features wie In-Car-Commerce oder Over-the-Air-Updates legen Verbraucher:innen zunehmend Wert auf eine nahtlose Interaktion mit der Automobilmarke während des gesamten Produktlebenszyklus. Für die Automobilbranche, die traditionell durch ein stationäres Händlermodell geprägt ist, ist das eine große Herausforderung.
Digital-Commerce-Kompetenz ist eine vielschichtige Aufgabe für die Automobilindustrie. Dabei gibt es verschiedene Bereiche: In-Vehicle-Commerce, Front-End-Commerce beim Autokauf und traditioneller Handel im After-Sales-Bereich. Derzeit behandeln und managen die OEMs alle diese Bereiche typischerweise unabhängig voneinander. Aus Kundensicht sollte sich das schleunigst ändern.
OEMs stehen vor einer steilen Lernkurve, denn sie müssen ihre traditionellen Silos auflösen. Diese haben zwar in den letzten 100 Jahren gut funktioniert, sind aber in der heutigen, von Software und digitalen Commerce-Plattformen geprägten Umgebung nicht mehr zeitgemäß. Kund:innen wollen nicht mehrere Anlaufstellen, Passwörter, Logins oder Zahlungsmöglichkeiten für dasselbe Fahrzeug haben. Viele OEMs sind geprägt von Marketing und Vertrieb auf der einen und Engineering und Technologie auf der anderen Seite. Diese Bereiche müssen eng zusammenarbeiten, um ein vernetztes Fahrerlebnis zu schaffen.
OEMs und Händler müssen ihre derzeitigen Entwicklungsprozesse in ein durchgängiges und integriertes Modell überführen. Dafür sollten sie F&E-Managementkonzepte einführen, um sicherzustellen, dass die Software- und Hardwareentwicklung während des gesamten Fahrzeug-Lebenszyklus Upgrades und Verbesserungen ermöglicht. Viele der aktuellen Veränderungen werden von OEMs initiiert, die ihren Kund:innen mehr Komfort bieten wollen.
Um die Organisation eines OEM auf die neuen Herausforderungen und Chancen auszurichten, ist in erster Linie konsequentes Change Management erforderlich.
OEMs stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen wie die etablierten Mobiltelefonhersteller wie Nokia und Blackberry zu Beginn der Smartphone-Ära angesichts neuer Akteure mit einer neuen Philosophie. Die Verbraucher:innen erwarten, dass bestimmte Upgrades drahtlos (over-the-air) möglich sind. Das digitale Ökosystem, das bereits nahtlos auf Smartphones und vernetzten Geräten zu Hause und im Büro funktioniert, sollte ebenso nahtlos auf das Fahrzeug übertragen werden können.
Amazon (Alexa) und Microsoft erweitern ihre bestehenden Angebote in den Mobilitätsbereich. Apple CarPlay und Android Auto bieten den vertrauten Infotainment-Komfort im Auto, den die Kunden von ihren Mobiltelefonen gewohnt sind, ohne dass eine separate Konfiguration erforderlich ist.
Tesla hat ein eigenes System entwickelt, verfügt aber über eine treue Fangemeinde, die zu einer Zeit entstand, als Infotainment noch weniger wichtig war. Als aber Ende letzten Jahres General Motors ankündigte, CarPlay und Android Auto in seinen künftigen Elektroautos nicht mehr zu unterstützen und stattdessen eine neue Software zu entwickeln, die hauptsächlich auf Google basiert, äußerten sich potenzielle Kunden in den sozialen Medien unzufrieden über die fehlende CarPlay-Unterstützung von GM und zogen einen Wechsel zu anderen Anbietern in Erwägung.
Das Beispiel zeigt: Die Integration von Drittanbietern sorgt für eine harmonisierte digitale Landschaft und bietet Kund:innen eine nahtlose und konsistente Experience. Für OEMs bedeutet das, dass sie Wege finden müssen, sich in diese Umgebung zu integrieren und einen einzigartigen Mehrwert zu bieten, anstatt eine alternative Umgebung zu schaffen.
Viele OEMs haben sich ehrgeizige Ziele für die Einnahmen aus digitalen Fahrzeugdiensten gesetzt. In den letzten Jahren haben wir intensiv mit OEMs zusammengearbeitet, um Geschäftsmöglichkeiten zu entwickeln, die sich aus der Elektrifizierung und den zunehmenden Möglichkeiten vernetzter Fahrzeuge ergeben – bis 2030 werden mehr als die Hälfte der Fahrzeuge Teil eines vernetzten Ökosystems sein.
Es steht außer Frage, dass OEMs Fehler bei der Erfüllung der Kundennachfrage nach On-Demand-Funktionen gemacht haben. Kund:innen schätzen es nicht, wenn eigentlich grundlegende Funktionen durch kostenpflichtige Angebote freigeschalten werden müssen. Zumal, wenn die nötige Hardware sowieso vorhanden ist. OEMs haben anscheinend noch nicht die richtigen Abo-Modelle gefunden. Denn auch wenn einige Kund:innen zusätzliche Zahlungen prinzipiell ablehnen, wächst die Abo-Wirtschaft in vielen anderen Branchen schnell.
Das Fundament für Abo-Modelle ist auch im Automotiv-Bereich vorhanden. Laut einer Studie von S&P Global Mobility 2023 würden 82 Prozent der Befragten, die eine kostenlose Testversion kennen oder ein Abonnement für ein Automodell aus dem Jahr 2016 oder jünger haben, beim Kauf eines neuen Fahrzeugs abonnementbasierte Dienste in Betracht ziehen. Besonders beliebt sind Freisprechtechnologie, Infotainment-Pakete und verbesserte Konnektivität.
Kürzlich entwickelte Audi zusammen mit Valtech Mobility den digitalen Marktplatz »Audi Themes«. Damit können Kunden den Innenraum ihres Autos in der myAudi App individuell gestalten – einschließlich der Ambientebeleuchtung im Fahrzeug und der Hintergrundbilder auf dem Zentraldisplay. Weitere Funktionen werden folgen. Die wichtigste Errungenschaft ist jedoch die Schaffung eines Marktplatzes, der es Drittanbietern ermöglicht, sich an der Bereitstellung personalisierter In-Car-Experiences für Verbraucher:innen zu beteiligen, die von Unternehmen wie Apple noch nicht angeboten werden.
Das Fahrzeug bietet nur begrenzten Raum für spezifische Funktionen und genau hier liegt die Chance für OEMs, einen Mehrwert für Verbraucher:innen zu schaffen – mit Funktionen, die speziell auf die Fahrzeugumgebung zugeschnitten sind, wie zum Beispiel in Infotainmentsysteme integrierte Park- und Ladeservices für Elektrofahrzeuge.
OEMs müssen nicht von Grund auf neue App-Ökosysteme entwickeln, um mit bestehenden aus der Smartphone-Welt zu konkurrieren, sondern vielmehr überlegen, wo sie in der Customer Journey einen Mehrwert bieten können. Eine datengestützte Nutzerzentrierung ist dabei hilfreich. Durch das Sammeln und Analysieren von Nutzerdaten und das Einbeziehen von Nutzerfeedback in den Entwicklungsprozess können OEMs Produkte und Services personalisieren und so die User Experience verbessern.
Die Automobilindustrie steht an einem Scheideweg. Alle OEMs, unabhängig vom Vertriebsmodell, sollten eine solide Commerce-Kompetenz aufbauen, um nahtlos mit ihren Kund:innen interagieren zu können. Wer sich den neuen Herausforderungen erfolgreich stellt und die Chancen der Digitalisierung nutzt, wird die Zukunft der Mobilität gestalten.
Denny Pezic
ist Global Vertical Lead für Automobil und Mobilität bei Valtech.