Der Fachkräftemangel und der Verlust von Erfahrungswissen stellen die Industrie vor enorme Herausforderungen. Unternehmen müssen generative künstliche Intelligenz (GenAI) gezielt einsetzen, um Wissensarbeit zu automatisieren und Mitarbeitende aktiv bei ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen.
Die McKinsey-Studie »Investing in the manufacturing workforce to accelerate productivity« verdeutlicht eindringlich, wie stark die Industrie unter den Folgen des demografischen Wandels leidet. Mit jedem Renteneintritt verschwindet wertvolles Erfahrungswissen aus den Betrieben. Gleichzeitig benötigen neue Mitarbeitende wesentlich mehr Zeit, um komplexe Tätigkeiten sicher zu beherrschen. Eine zentrale Rolle spielt die Kennzahl »Time to Proficiency«. Sie zeigt, wie schnell eine Fachkraft nach Eintritt ins Unternehmen produktiv arbeitet und Schulungsmaßnahmen Wirkung zeigen.
Eine große Lücke zwischen Neulingen und Routiniers mindert die Leistungsfähigkeit des Unternehmens erheblich. Langwierige Einarbeitungen führen zu Verzögerungen, steigenden Kosten und sinkender Wettbewerbsfähigkeit. Hinzu kommt eine geringere Zufriedenheit in der Belegschaft, weil Karrieren und Gehaltsentwicklungen weiterhin stark an die Dauer der Betriebszugehörigkeit gekoppelt bleiben.
Eine weitere Perspektive eröffnet die Studie des Manufacturing Technology Centre (MTC). Dort gaben 41 Prozent der 60- bis 66-Jährigen an, dass ihre Fähigkeiten im Unternehmen nicht genutzt werden. Gleichzeitig fehlt es bei 60 Prozent aller Beschäftigten an strukturierten Formen der generationenübergreifenden Wissensweitergabe. Ohne systematische Maßnahmen droht ein massiver Verlust an Erfahrung, der sich direkt auf Innovationskraft und Produktivität auswirkt.
Viele Unternehmen setzen deshalb verstärkt auf digitale Technologien, besonders auf künstliche Intelligenz (KI) und die zahlreichen Möglichkeiten von GenAI. Diese Systeme sollen helfen, Wissen zu sichern, Lernprozesse zu beschleunigen und Mitarbeitende gezielt zu unterstützen.
Ein Beispiel liefert das Forschungsprojekt »KI_eeper – Know-how to keep«, das im Januar vom ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft, mit den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie als Mitglieder abgeschlossen wurde. Ziel war es, mithilfe eines multimodalen KI-Systems das Know-how von Fachkräften automatisch zu erfassen, im Betrieb verfügbar zu machen und neuen Mitarbeitenden unmittelbar bereitzustellen. Das System kombiniert verschiedene Eingabekanäle und stellt Wissen situationsgerecht zur Verfügung. Die beteiligten Unternehmen berichteten von Fortschritten beim Wissenstransfer und von effizienteren Abläufen.
Trotz dieser positiven Ergebnisse bleiben Barrieren bestehen. Vielen Verantwortlichen fehlt die Expertise, um zu entscheiden, welche Verfahren im eigenen Betrieb tatsächlich Nutzen stiften. Lange Einführungszeiten bremsen den Rollout, und nicht wenige Mitarbeitende äußern die Sorge, durch KI ersetzt zu werden. Diese Ängste zeigen, wie wichtig transparente Kommunikation und eine Kultur der Zusammenarbeit sind, in der KI als Unterstützung und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird.
Ein weiteres Risiko entsteht durch übersteigerte Erwartungen. Large Reasoning Models (LRMs), eine Weiterentwicklung der bekannten Large Language Models (LLMs), sollen logisches Denken imitieren. Der Ansatz klingt vielversprechend, doch die Apple-Studie »The Illusion of Thinking« zeigt deutliche Grenzen: Mit steigender Komplexität der Aufgaben sinkt die Präzision signifikant. Ab einer bestimmten Schwelle kollabiert die Lösungsqualität komplett, in manchen Fällen bis auf null Prozent.
Hinzu kommt das Problem der Halluzination. KI-Modelle produzieren Antworten, die überzeugend formuliert wirken, aber faktisch falsch oder frei erfunden sind. Für die Industrie bedeutet das ein erhebliches Risiko. Falsche Informationen können Prozesse stören, Compliance-Regeln verletzen oder den Ruf eines Unternehmens beschädigen. Sprachmodelle arbeiten auf Wahrscheinlichkeiten und besitzen kein eigenes Verständnis von Wahrheit. Deshalb brauchen Unternehmen Kontrollmechanismen, die Ergebnisse prüfen und validieren, bevor sie in Abläufe einfließen.
Die zentrale Frage lautet daher: Wie lassen sich KI-gestützte Wissenslösungen gestalten, die Erfahrung bewahren, Lernprozesse beschleunigen und dabei die Grenzen aktueller Systeme berücksichtigen? Nur wenn Technologie, Organisation und Belegschaft gemeinsam agieren, kann die Industrie den Fachkräftemangel abfedern, Produktivität sichern und langfristig wettbewerbsfähig bleiben.
Der Kampf gegen den Fachkräftemangel beginnt beim besseren Umgang mit dem Wissen, das im Unternehmen vorhanden ist. In vielen Betrieben liegen Informationen in voneinander abgeschotteten Systemen. Diese Silos sorgen dafür, dass Mitarbeitende wertvolle Zeit mit Suchen verbringen, anstatt produktiv zu arbeiten. Angesichts schrumpfender Teams können sich Unternehmen diesen Effizienzverlust nicht leisten. Eine moderne Lösung verknüpft Informationsquellen intelligent und systemübergreifend, ohne sie physisch zu konsolidieren.
Über Konnektoren lassen sich Hunderte Systeme einbinden – von Wikis und lokalen Dateispeichern über CRM und ERP bis zu Dokumentenmanagement-Plattformen. Semantische Analyse und Indexierung schaffen eine einheitliche Zugriffsebene, die allen Mitarbeitenden schnellen Zugang zu kritischem Wissen bietet. Die Daten bleiben am Ursprungsort und erfüllen weiterhin Sicherheits- und Compliance-Anforderungen. Unternehmen erhalten damit Zugang zu AI-ready Data, und eine einheitliche Wissensbasis verkürzt Einführungszeiten und erleichtert die Einarbeitung neuer Mitarbeitender, die ohne diesen Zugriff wesentlich länger bis zur Produktivität bräuchten.
Eine konsolidierte Informationsbasis reicht jedoch nicht aus. Wissen muss dort verfügbar sein, wo es gebraucht wird. KI-basierte Lösungen strukturieren Inhalte in Insight Journeys – kontextbasierte Datenreisen, die Abläufe wie die Wartung komplexer Anlagen oder das Onboarding neuer Techniker abbilden.
Jede Journey besteht aus Touchpoints, interaktiven Schnittstellen, die die relevanten Inhalte im jeweiligen Arbeitsschritt liefern. Ein Servicetechniker muss nicht lange nach Anleitungen suchen, sondern erhält die Informationen direkt im Kontext seiner Aufgabe. Die modularen Touchpoints lassen sich flexibel einsetzen (z.B. Service, Einkauf, Instandhaltung).
Die Verbindung von Insight Journeys und Touchpoints – gleichsam eine »Wissensreise« – entlastet erfahrene Fachkräfte und ermöglicht neuen Mitarbeitenden, schneller Verantwortung zu übernehmen. So verkürzt sich die Time to Proficiency, und die Abhängigkeit von Wissensträgern sinkt. Unternehmen, die diese Arbeitsweise einführen, berichten oft von messbaren Effizienzgewinnen und einer höheren Motivation bei den Beschäftigten, weil Wissen im Alltag greifbar wird.
Wo Fachkräfte fehlen, darf Technik keine Unsicherheit schaffen. KI-Systeme geraten jedoch gerade bei komplexen Aufgaben an Grenzen. Eine industriegerechte Lösung setzt daher auf Retrieval-Augmented Generation (RAG). RAG verknüpft generative Modelle mit geprüften Datenquellen, sodass Antworten stets auf validen Fakten beruhen.
Ein Vorteil liegt in der Nachprüfbarkeit: Jede Antwort verweist auf die zugrunde liegende Quelle. Beschäftigte sehen sofort, ob Informationen aus einem Handbuch, einem Protokoll oder einem Erfahrungsbericht stammen. Ebenso signalisiert das System, wenn keine verlässliche Antwort vorliegt. Das verhindert Halluzinationen, die in der Industrie schwerwiegende Folgen haben können.
So entsteht Vertrauen in Systeme, die gerade Nachwuchskräfte unterstützen, wenn erfahrene Kolleginnen und Kollegen fehlen. Diese Transparenz erleichtert außerdem die Akzeptanz im Betrieb und macht deutlich, dass KI nicht Ersatz, sondern Hilfe ist.
Wenn Fachkräfte in Rente gehen, brauchen Neueinsteiger Orientierung. Moderne KI-Systeme bieten diese Hilfe, indem sie über Chat-ähnliche Interfaces eine intuitive Interaktion ermöglichen. Selbst unspezifische Anfragen werden verstanden, weil das System die Nutzerabsicht interpretiert und passende Inhalte bereitstellt.
Proaktive Funktionen wie der »Welcome-Touchpoint« liefern schon beim Einstieg relevante Informationen, abgestimmt auf Rolle und Aufgabe. Neue Mitarbeitende finden so schneller in ihre Tätigkeiten hinein, ohne auf Schulungen angewiesen zu sein. Onboarding-Prozesse verlaufen schneller, und die Abhängigkeit von erfahrenen Kollegen sinkt.
Gerade in Zeiten knapper Personalressourcen wird diese Form der Unterstützung zum Hebel gegen den Fachkräftemangel. Unternehmen steigern Produktivität und stärken gleichzeitig die Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Der Effekt geht über die reine Wissensvermittlung hinaus: Wer schnell Zugang zu relevanten Informationen hat, fühlt sich sicherer und kann früher Verantwortung übernehmen.
Der Nutzen intelligenter Wissenssysteme zeigt sich besonders in der Fertigung. Ungeplante Stillstände verursachen enorme Kosten – in der Luftfahrtindustrie bis zu 400 US-Dollar pro Minute. Gleichzeitig fehlen erfahrene Instandhalter, die komplexe Fehlerdiagnosen zuverlässig durchführen können.
Ein smartes Wissenssystem bewahrt das Know-how älterer Generationen und stellt es neuen Mitarbeitenden jederzeit zur Verfügung. Im Rahmen von Total Productive Maintenance (TPM) unterstützt das System die Säule »Autonome Instandhaltung«. Weniger erfahrene Techniker erhalten kontextbezogene Informationen, Schritt-für-Schritt-Anleitungen und interaktive Hilfen, um einfache Wartungsaufgaben selbstständig zu übernehmen.
Tritt eine Störung auf, liefert das System sofort relevante Informationen – vom Protokoll über Erfahrungsberichte bis zu Kontaktdaten von Fachleuten. So gelingt eine schnelle Fehleranalyse, und die Produktion läuft weiter, auch ohne Experten oder Expertin vor Ort.
Visuelle Funktionen wie »Interactive Exploded View« ergänzen die Unterstützung. Mitarbeitende erkunden Bauteile virtuell und greifen direkt auf Lagerbestände, Bestellnummern oder Verträge zu. Das spart Zeit, verhindert Fehler und reduziert die Abhängigkeit von Spezialisten. Diese visuelle Dimension senkt zudem die Einstiegshürde für Neueinsteiger, die ohne jahrelange Erfahrung sofort relevante Zusammenhänge verstehen können.
Informationsmanagement ist längst ein strategischer Erfolgsfaktor im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Moderne multimodale LLMs verarbeiten nicht nur Text, sondern auch Audio- und Videodateien, transkribieren Inhalte und stellen strukturierte Zusammenfassungen bereit. Damit rückt die Vision näher, Wissen wie ein Mensch über verschiedene Sinne zu erfassen – ein Ansatz, den bereits das Projekt »KI_eeper – Know-how to keep« verfolgt hat.
Die Fähigkeit, Informationen intelligent zu vernetzen, kontextbezogen auszuwerten und im richtigen Moment bereitzustellen, wird zum entscheidenden Instrument gegen den Verlust von Erfahrungswissen. Unternehmen, die den Schritt vom isolierten Datensilo zum proaktiven Wissenssystem vollziehen, sichern sich höhere Produktivität und langfristige Wettbewerbsfähigkeit.
Moderne KI-basierte Datenmanagementsysteme auf Basis von Insight Journeys und Touchpoints liefern mehr als technische Unterstützung. Sie bewahren Know-how, verkürzen die »Time to Proficiency«, steigern die Effizienz und legen das Fundament für die Smart Factory. In einem Bereich, der immer stärker um Fachkräfte ringt, wird der Einsatz solcher Systeme zur geschäftskritischen Notwendigkeit.