Inwieweit ist die Vision Industrie 4.0 schon umgesetzt, was muss noch getan werden, und hat die Verwirklichung von Industrie 5.0 schon begonnen?
Dr. Harald Schöning, Sprecher der Industrie des Forschungsbeirats Industrie 4.0 und Vice President Research für die öffentlich geförderten Forschungsprojekte der Software AG, gibt Auskunft.
Markt&Technik: Wie weit ist das Projekt Industrie 4.0 in den produzierenden Unternehmen vorangekommen?
Dr. Harald Schöning: In großen produzierenden Unternehmen ist die Umsetzung oft schon weit fortgeschritten. Die grundlegende Infrastruktur mit der dazugehörigen Sensorik und Vernetzung ist geschaffen, und die so verfügbaren Daten werden in vielfältiger Weise genutzt. Kollaborative Roboter unterstützen die Arbeiter in ganz neuer Weise, digitale Assistenzsysteme helfen dem Personal unter Einsatz von Augmented Reality – man spricht hier bereits vom Industrial Metaverse. Es eröffnen sich völlig neue Methoden zur Reduktion von Energieverbrauch und CO2-Fußabdruck, künstliche Intelligenz hilft bei der effizienten Nutzung von Rohstoffen, neue nachhaltige Geschäftsmodelle werden möglich.
Was bleibt noch zu tun?
Trotz aller Fortschritte bleibt noch viel zu tun, besonders mit Blick auf den vielbeschworenen Mittelstand. Zum einen müssen diese Anwendungen von Industrie 4.0 in die Breite getragen werden und auch in kleineren Unternehmen zum Einsatz kommen. Der wirtschaftliche Nutzen in Form geringer Kosten und/oder zusätzlicher Umsätze muss dabei für sie unmittelbar erkennbar sein. Es gibt in Deutschland viele Kompetenzzentren, die hier beraten und begleiten können; ergänzend sind aus meiner Sicht Beratungsgutscheine oder die im Koalitionsvertrag angekündigten Superabschreibungen wirkungsvolle Instrumente, um die breite Adaption von Industrie 4.0 voranzutreiben.
Sicherlich ist aber auch das Beispiel von Vorreitern und Marktbegleitern wichtig. Mit der zunehmenden Bedeutung von Nachhaltigkeit auch für die Unternehmensbewertung ist ein weiterer Anreiz für die Unternehmen gegeben, um Industrie 4.0 einzusetzen und so ihre CO2-Emissionen zu reduzieren.
Zum zweiten muss nun aber auch die Vernetzung von Unternehmen miteinander vorangetrieben werden.
Warum ist diese Vernetzung nicht schon weiter fortgeschritten?
Die horizontale Integration von Unternehmen in Wertschöpfungsnetzwerken war in Industrie 4.0 zwar von Anfang an mitgedacht, wird aber erst jetzt, wo die Voraussetzungen in den Unternehmen geschaffen sind, wirklich möglich. Erste Beispiele entstehen mit tatkräftiger Unterstützung des BMWK aus der Industrie heraus, etwa Catena-X in der Automobilwirtschaft oder Manufacturing-X im verarbeitenden Gewerbe. Mit einer solchen Vernetzung eröffnen sich neue Möglichkeiten auch zur Steigerung der Nachhaltigkeit, vor allem für die Kreislaufwirtschaft.
Ein digitaler Produktpass und Transparenz über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts ermöglichen durch genaue Informationen über Bestandteile und verwendete Materialien sowie Demontageanleitungen nicht nur ein neues Niveau der Rohstoffwiedergewinnung, sondern fördern auch die höherwertige Zweitnutzung etwa in Form von Upcycling, Refurbishing, Remanufacturing, Re-Use oder gar Second Life.
Besondere Bedeutung hat schließlich auch die Resilienz der Industrie in Krisen aller Art gewonnen, wie auch einige Expertisen des Forschungsbeirats Industrie 4.0 zeigen. Das diesbezügliche Potenzial von Industrie 4.0 muss noch stärker genutzt werden, auch um unsere Abhängigkeit von globalen Lieferketten zu reduzieren.
Vereinzelt ist schon von Industrie 5.0 die Rede. Welchen Sinn hat es, zum jetzigen Zeitpunkt Industrie 5.0 ins Spiel zu bringen? Was soll Industrie 5.0 nach Industrie 4.0 bedeuten?
Der Begriff »Industrie 5.0« wurde von europäischer Seite eingeführt. Er beruht allerdings auf einem Missverständnis, denn damit soll ausgedrückt werden, dass der menschliche Faktor in den Mittelpunkt des Produktionsprozesses gestellt werden soll und verstärkt Wert auf menschliches Wohlergehen, Nachhaltigkeit und Resilienz gelegt wird. Das sind jedoch alles Zielsetzungen, die schon vor zehn Jahren im ersten White Paper zu Industrie 4.0 genannt wurden und die auch die Plattform Industrie 4.0 unter dem Titel »Nachhaltigkeit« zu einem der drei Fixsterne ihres Leitbilds erhoben hat.
Die Erfindung eines neuen Begriffs ist daher meiner Meinung nach nicht nur sinnlos, sondern sogar kontraproduktiv, denn sie kann zu Irritationen bei Unternehmen führen, die auf dem Weg zu Industrie 4.0 sind. Vielleicht ist Industrie 5.0 aber auch einfach nur ein Beleg dafür, wie erfolgreich wir mit Industrie 4.0 sind, weshalb sich andere unter anderem Namen mit ihren Federn schmücken möchten.