Die Zukunftsrelevanz dieser Entwicklung liegt – gerade in einem Hochlohnland wie Deutschland – auf der Hand. Richtig eingesetzt, ermöglichen cyberphysikalische Systeme einen Produktivitätsschub, insbesondere im Hinblick auf Kleinserien und die Individualisierung von Produkten. Das System in der Maschinenfabrik Reinhausen wirft nach den Ausführungen von Scheibe auch ein Licht auf die grundsätzliche Struktur von Industrie 4.0. Dazu zählen einerseits die Manufacturing Execution Systeme (MES), die den operativen Auftragsdurchlauf und damit auch den Informationsaustausch zwischen den Elementen des Produktionsnetzwerks steuern. Das ist ein Bereich, der heute bei der praktischen Auseinandersetzung mit Industrie 4.0 häufig im Fokus steht. Die zweite wesentliche Ebene sind Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme (PP / PPS), die nicht nur eine technologische, sondern vor allem auch eine prozessuale Herausforderung darstellen. »Um keine IT-Monstren aufzubauen, gilt es, die Grundsätze der Lean-Logik anzuwenden: Möglichst viele Bereiche der Produktion sollen anhand von Rahmendaten selbststeuernd funktionieren und eine Selbstoptimierung der Fabrik ermöglichen. So wichtig diese Planungsebene ist, findet Industrie 4.0 vor allem im Feld statt. Sie bedarf einer schlanken und flexiblen Steuerungslogik, muss aber ansonsten auf die Intelligenz des Netzwerks setzen«, führt Scheibe aus.
Grau ist alle Theorie
Aber, wie so häufig ist das leichter gesagt als getan. »Denn die organisatorischen und auch kulturellen Auswirkungen einer umfassenden Industrie 4.0-Implementierung sind enorm«, weiß der ROI-Vorstand. »So wird ein Gutteil tradierter Geschäftsprozesse gründlich auf den Kopf gestellt, insbesondere weil die Abteilungs- und selbst Unternehmensgrenzen nicht mehr als Kommunikationsgrenzen fungieren dürfen«.
Sowohl vertikale als auch horizontale Integration sind Voraussetzung für eine Organisation, die dezentral strukturiert ist und die Intelligenz im Netzwerk verteilt. Es gebe wohl keinen Entscheidungsträger, der das nicht unterschreiben würde, gibt Scheibe zu bedenken. Aber wohl auch kaum ein Unternehmen, das diese Art der Zusammenarbeit und Kompetenzverteilung reibungslos umgesetzt hat. Denn Netzwerkorganisationen sind unabdingbar, um die steigende Komplexität und insbesondere auch Volatilität zu beherrschen. »Sie widersprechen jedoch fast unserer gesamten beruflichen Sozialisierung, unseren gelernten Interaktionsmustern und den daraus abgeleiteten Arbeits- und Organisationsformen – vorausgesetzt, die Mitarbeiter sind im Durchschnitt älter als 20. Ein weiterer schwerwiegender Faktor sind die desintegrierten und heterogenen IT-Landschaften, mit denen die meisten Unternehmen nach wie vor zu kämpfen haben. Und nicht nur die Unternehmen«, merkt Scheibe an und wirft dabei auch gleich ein Blick auf den Markt der IT-Dienstleister: Dieser zeigt nach seinen Worten vor allem ein Bild, das von Insellösungen und ‚Best of Breed‘ Ansätzen geprägt ist. »Keiner ist derzeit geeignet, als umfassende Lösung alle technologischen Anforderungen an unternehmensspezifische Cyber-Physical Systems zu erfüllen«. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Scheibe einen Ansatz, der von einer pragmatischen Vision geleitet wird: »Und das bedeutet vor allem, das Pferd nicht von hinten aufzuzäumen. Die entscheidende Frage ist, welche technologische Architektur im Hinblick auf konkrete Markt- und Kundenanforderungen entwickelt werden soll und wie umfassend diese sein muss – und nicht, wie verfügbare Technologien nutzbar gemacht werden können«. Die Umsetzung wird dabei, wie in der Maschinenfabrik Reinhausen, häufig von Eigenentwicklungen und kreativen Lösungen getragen werden müssen. »Industrie 4.0 bleibt deshalb auch in den nächsten Jahren vor allem ein Experimentierfeld an der Schnittstelle zwischen Technologien, Prozessen, betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten und Inspiration«, resümiert Hans-Georg Scheibe.