Hinter den Kulissen

Die Heimat der Gurus

16. November 2009, 10:11 Uhr | Frank Riemenschneider

Eines der Designcenter von Linear Technology wird »Home of the Gurus« genannt. Dort arbeiten angeblich die besten Designer. Die »Elektronik« durfte zum ersten Mal den Gurus über die Schulter schauen und mit einem von ihnen sprechen.

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Mein erster Gedanke war: Chaos. Zwischen unzähligen Oszilloskopen, Lötkolben, Platinen und Kabeln sitzen meist junge Männer in kurzen Hosen, Jeans und Schlabber-T-Shirts. Für einen externen Besucher ist es schlichtweg unmöglich zu identifizieren, was diese Männer genau tun. Die einzigen drei anwesenden Frauen könnten auch als Model arbeiten. Ich frage mich, was sie dazu bringt, ihre Arbeitszeit im Kunstlicht mit Chips und Lötzinn zu verbringen.

John Hamburger, Pressechef von Linear Technology, erklärt, dass es sich um Linears beste Designer handelt, die die besten Chips entwickeln und Linears größte und wichtigste Kunden betreuen. Mindestens fünf, besser zehn Jahre Berufserfahrung benötigt ein Top-Designer laut CEO Maier dafür. Ich frage mich, ob diese Leute hier alle schon im Alter von 15 Jahren angefangen haben, Analog-Chips zu entwickeln.

Jim Williams
Jim Williams ist einer der »Gurus« bei Linear Technology.
© Elektronik

In der hintersten Ecke des riesigen Raumes scheint das Chaos am größten: Vor einem Stapel Platinen und Messgeräten sitzt auf einem Hocker Jim Williams. Laut Visitenkarte ist er »Staff Scientist«. Er drückt mir etwas schüchtern die Hand. Williams hat unzählige Application-Notes verfasst, die teilweise dem Anspruch einer Diplomarbeit genügen und Linear zahlreiche neue Kunden beschert haben. Er sagt zu meiner Überraschung, dass die meisten Kunden nichts dagegen hätten, wenn Linear eine Application-Note veröffentlicht, die eine für sie entwickelte Lösung beschreibt.

Was ist denn nun ein »engineer driven sales approach« will ich von Williams wissen. Diese mysteriöse Wortkonstruktion wird immer als einer der großen Erfolgsfaktoren von Linear genannt. Er erklärt, dass ihn die Kunden anrufen, wenn sie ein Problem haben. Die meisten haben nicht genug Analog-Expertise oder Designer-Kapazität, um selbst ein Top-Design hinzukriegen. In diesem Fall hilft er aus, seine Überlegungen können eine Stunde dauern oder ein Jahr – für den Kunden ist dieser Service kostenlos. Finanziert wird er über die verkauften Chips.

Am Ende will er immer das beste Design anbieten. Es soll die Anforderungen des Kunden erfüllen und preislich im Rahmen bleiben. In vielen Fällen ist es nicht möglich, die Anforderungen allein mit Chips von Linear zu erfüllen. In diesem Fall baut Williams eben Chips der Konkurrenz in das Design ein. Sein Leitmotiv: Der Kunde soll ihm vertrauen und wieder anrufen. So sagte er einem Kunden auch schon, dass er ihm mit Linears Chips nicht helfen kann, weil sie zu teuer sind. Statt eine zweitklassige Lösung anzubieten, verzichtete er lieber ganz.

Williams sagt, dass es das wichtigste sei, dem Kunden zu beweisen, dass es funktioniert. Nur dann geht der Ingenieur zum Einkäufer und sagt, dass er Chips von Linear braucht. Die unzähligen Platinen auf seinem Tisch zeugen davon, dass es manchmal ein steiniger Weg ist, bis eine Lösung wirklich funktioniert.

An den Wänden im »Home of the Gurus« hängen Bilder mit Chip-Layouts und den Namen der Designer, die für diese Werke verantwortlich sind. Jeder soll sehen, wer hinter dem Erfolg von Linear wirklich steht. Das Unternehmen entwickelt keine Chips im Kundenauftrag oder solche, die schon auf dem Markt verfügbar sind. Williams sagt, dass seine Kollegen und er versuchen zu planen, was der Kunde in ein bis zwei Jahren braucht. Dafür müssen sie sich in die Lage des Kunden versetzen, müssen seine Bedürfnisse verstehen. Dann entwickeln sie neue Chip-Designs und hoffen, dass sie einen Treffer gelandet haben. Meistens treffen sie, weil sie ja den Kunden bei dessen Designs unterstützen und manchmal besser als er selbst wissen, was er braucht. Für Innovation zahlen die Kunden eben mehr, damit sie selbst innovativ sein können.

Nach 10 Minuten muss ich wieder gehen. Die Arbeitszeit eines »Gurus« ist zu teuer für einen Redakteur, selbst wenn er von der »Elektronik« kommt. Jim Williams drückt mir zum Abschied die Hand: »Immer dran denken, wir müssen die Welt aus Sicht unserer Kunden sehen«.

Pressechef John Hamburger erklärt mir, dass viele Designer auf eigene Kosten ihre eigenen Geräte mitbringen – sie haben sie so in ihr Herz geschlossen, dass sie sie nicht mit anderen Kollegen teilen wollen. Manche haben sogar eine Kopie ihres Arbeitsplatzes zu Hause eingerichtet, um allzeit bereit zu sein, Geistesblitze verarbeiten zu können. Als ich einen letzten Blick auf eine Mitarbeiterin werfe, die mit geradezu liebevollem Blick an einem Oszilloskop herumschraubt, frage ich mich, ob es wohl auch Eifersuchtsdramen im Stil von Mann vs. Messgerät geben kann. Nein, ich will es lieber gar nicht wissen.


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