Wirklich intelligente selbstlernende Systeme für die Produktionssteuerung stehen trotz aller Anstrengungen noch am Anfang. Was sind die größten Herausforderungen, die noch zu lösen sind, und was ist ein realistischer Zeitplan für die Umsetzung?
Jasperneite: Erstmal zur Definition: Ein System, das nicht in der Lage ist zu lernen, ist eine intellektuelle Leistung des Entwicklers, aber nach unserem Verständnis kein intelligentes technisches System. Wenn das System jedoch z. B. auf Basis von Sensorik oder Algorithmen in der Lage ist, sich selbst zu diagnostizieren oder zu optimieren, geht es in Richtung Intelligenz. Grundlage dafür ist neben der Vernetzung, ein effizientes Computermodell, dass die Funktionsweise des technischen Systems möglichst gut abbildet, um es dann parallel zum Betrieb des technischen Systems laufen zu lassen. Damit kann man einerseits Anomalien erkennen, also eine Selbstdiagnose, zum anderen kann man natürlich sehr schön mit Hilfe von Echtzeit-Simulationen nach vorne schauen: Was wäre wenn sich in den nächsten 10 ms dies oder das verändert? Damit kann man prognostizieren und Optimierungen vornehmen. Wir arbeiten im Spitzencluster it’s OWL und anderen Projekten auch an selbstkonfigurierenden Systemen, um strukturelle Umbauten von Maschinen und Anlagen ohne manuelles Engineering zu ermöglichen, also Plug-and-Play-Techniken. Die große Herausforderung ist, dass Sie, wenn die Maschine morgen auch Aufgaben von Programmierern oder Experten selber übernehmen soll, Modelle brauchen, und diese bei jeder Änderung nachziehen müssen. Deswegen brauchen wir geeignete maschinelle Lernverfahren, wo durch Beobachtung der Zustände eines technischen Systems ein Computermodell selbst erlernt werden und dieses in der Folge die Maschine in der digitalen Welt repräsentieren kann.
Wunderbar in der Theorie. Können Sie unseren Lesern ein praktisches Beispiel nennen?
Jasperneite: Wir haben ein Projekt mit einem Antriebshersteller. Der möchte neue Märkte erschließen, u. a. Regalbediengeräte für Hochregallager. Er musste sich ein Differenzierungsmerkmal ausdenken und das war der Energiebedarf. Mit Hilfe von Software-Algorithmen, die auf einem Industrie-PC laufen, der in den Schaltschrank mit verbaut wird, haben wir ein selbstoptimierendes System entwickelt, das beim Ein- und Auslagern der Waren aus den Regalen unter Berücksichtigung der notwendigen Performance den Energiebedarf selbstständig minimieren kann. Das führt zu Energieeinsparungen im zweistelligen Prozentbereich. Was denken Sie, was passierte?
Die potentiellen Neukunden haben ihn nicht mehr weggeschickt?
Jaspernite: Richtig! Das finden die Kunden cool! Und der Witz: Erfolgt ein Umbau des Hochregallagers, müssen viel weniger Engineering-Leistungen eingekauft werden. Wenn Sie umbauen, ist das System selbstständig in der Lage, wieder ein Optimum zu finden. Nebenbei bemerkt: Die benötigten Sensoren, Zustandsinformationen und die Vernetzung waren bereits vorhanden; was fehlte, war die Kompetenz über maschinelle Lernverfahren und die Algorithmen. Das haben wir in einem Projekt mit dem Institut für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule OWL und dem Lemgoer Fraunhofer-Anwendungszentrum IOSB-INA für das Unternehmen erarbeitet.
Inwieweit sind heute genutzte IT-Technologien für den industriellen Einsatz übertragbar? Wo muss von Grund auf neu entwickelt werden und von wem?
Jasperneite: Nehmen Sie mal das Thema Ethernet für die Industrie. Die Idee Ende der 90er-Jahre war ja, anders als in der Welt der Feldbusse, weltweit genau einen Standard zu haben, der von der IT sehr schnell weiterentwickelt wird, so dass man davon wunderbar profitieren könnte. Dann musste man feststellen, dass Ethernet für hohe Verfügbarkeit, hohe Zuverlässigkeit und Echtzeitfähigkeit nicht besonders geeignet war. Also hat man von Ethernet einen Abzweig gemacht, nämlich 100-Mbit-Ethernet, und hat angefangen, dieses industrietauglich zu machen. Da mehrere konkurrierende Organisationen das Thema gleichzeitig beackert haben, haben wir nun im Ergebnis mehrere Industrial-Ethernet-Standards. Und man hat sich von der weiteren Entwicklung des Ethernet abgekoppelt, was sehr schade ist.
Soweit zur Hardware, gibt es auch ein Beispiel in der Software-Welt bezüglich Plattformen und Algorithmen?
Jasperneite: Nehmen Sie das maschinelle Lernen. Dafür gibt es in der Informatik schon seit 20 Jahren Algorithmen. Allerdings hatte man die Welt in eine digitale, also zeitdiskrete und wertediskrete Welt aufgeteilt, und in eine analoge kontinuierliche Welt. Für beide Richtungen gibt es maschinelle Lernverfahren. Für unser obiges Beispiel eines Regalbediengerätes mussten wir Dinge aus beiden Welten kreuzen und ein hybrides maschinelles Lernverfahren entwickeln auf der Basis etablierter Verfahren. Sonst hätten wir es in der Industrie nicht nutzen können. Andere IT-Elemente kann man nutzen, z. B. Web-Services.
Am Ende des Tages wird es ja nicht mehr nur um Mikrometertoleranzen in der Mechanik gehen – was die Chinesen auch bald können werden –, sondern darum, aus Daten Geschäfte zu generieren, sodass sich Maschinenanbieter in Richtung Dienstleister bewegen werden. Die meisten Mittelständler werden sich jedoch keine Software-Truppen leisten können wie die Großunternehmen. Es bleibt die »Miete« von Software-Firmen, die sich damit auskennen. Aber wo sind die?
Jasperneite: Die sollen alle zu uns kommen (lacht). Spaß beiseite: Konzeptionell können wir ihnen auf jeden Fall weiterhelfen. Wenn in Ihnen ein Unternehmer schlummert, ist jetzt die Chance, ein Unternehmen zu gründen. Ich habe selten eine solche gute Zeit gesehen, mit wenig Startkapital und guten analytischen und softwaretechnischen Fähigkeiten eine Firma zu gründen.
Ich sehe bislang nur wenige Gründungen bei Industrie 4.0 …
Jasperneite: Wissen Sie, leider ist der Wille, eine Firma zu gründen, auch bei jungen Ingenieuren nur bedingt ausgeprägt und der Wunsch, in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zu gehen, umso größer (seufzt). Da müssen auch wir an den Hochschulen noch mehr an dem Mindset der jungen Menschen arbeiten.
Ihre »SmartFactoryOWL« ist die realitätsgetreue Abbildung einer Fabrik. Ist dies der Schlüssel, kleine und mittlere Unternehmen für Industrie 4.0 zu begeistern?
Jasperneite: Ja, wir wollen die gesamte Komplexität abdecken und damit sind wir ziemlich gut in der Lebenswelt von Mittelständlern. Wir wurden sogar schon gefragt, ob wir real produzieren wollen (lacht). Zur Beruhigung: Das wollen wir nicht selber tun.
Neben Ihnen forscht u. a. auch die technische Universität in München-Garching an Industrie-4.0-Testaufbauten. Die Ergebnisse werden vielfach erstmal in einschlägigen wissenschaftlichen Journalen oder auf internen Webseiten veröffentlicht, die ein Mittelständler sicher nicht zu seiner Pflichtlektüre zählt. Wäre nicht eine etwas offensivere Marketingstrategie wie bei den Kollegen in den USA oder auch China (»Tue Gutes und rede darüber«) für die deutsche Industrie hilfreich?
Jasperneite: Tja, um als Wissenschaftler Reputation zu erzielen, müssen Sie in entsprechenden Magazinen mit Impact-Faktor veröffentlichen. Amerikanische Hochschulen beherrschen darüber hinaus auch das populärwissenschaftliche Vermarkten ihrer Arbeitsergebnisse. Dafür gibt es an unseren Hochschulen schlichtweg zu wenig Budget, weil hierzulande Vermarktung bisher noch nicht zum Selbstverständnis von Wissenschaft gehört.
Na ja, mein Mitleid mit Ihnen hält sich in Grenzen: Bosch Rexroth, Phoenix Contact, Weidmüller und weitere Kooperationspartner am Standort sind ja keine schlechte Basis?
Jasperneite: Nicht alle haben diese Möglichkeiten, wir freuen uns hier in OWL über ein sehr gutes und prosperierendes Umfeld. Der Spitzencluster it’s OWL ist mittlerweile sehr industriegetrieben, obwohl es grundsätzlich von Wissenschaftseinrichtungen konzipiert wurde. Das ist auch grundsätzlich gut so. Wenn die Unternehmen Vorteile für sich erkennen, sind sie auch bereit, Geld in Projekte zu geben. Über die Bearbeitung interessanter Fragestellungen können sich dann die Hochschulen und Forschungseinrichtungen profilieren. So entsteht ein Ökosystem mit Vorteilen für alle Akteure und die Region.
Worüber niemand gerne spricht ist das Thema fehlende Datensicherheit. Sicher ist nur, dass es 100 Prozent Sicherheit heute selbst laut Experten aus der Chipindustrie, die Sicherheitschips fertigt, nicht gibt. Der Geschäftsführer von Mennekes Elektrotechnik sagt zu Industrie 4.0, »… wir werden nicht über Nacht alles Bewährte umstellen und dadurch, nebenbei bemerkt, kopierbarer und auch angreifbarer werden«. Welches Risiko muss die Industrie eingehen, um international nicht den Anschluss zu verlieren? Wie haben Sie Security in Ihrer »SmartFactory« abgebildet?
Jasperneite: Wir setzen bewährte Techniken ein, nichts Spezielles. Wie schon zuvor erwähnt, sehe ich Menschen und Organisationen als primäres Risiko.
In der Rangliste der Länder mit den schnellsten Internetverbindungen kommt Deutschland nicht mal unter die Top 20. Die Hochschule Hof hat jüngst in einer auf Youtube veröffentlichten Vorlesung mit dem Thema »Industrie 4.0 in Deutschland: Werden wir zum digitalen Entwicklungsland?« eindrücklich auf diese Defizite hingewiesen. Provokativ gefragt: Was nützen Ihre ganzen Anstrengungen in Ihrer SmartFactoryOWL, wenn die defizitäre Infrastruktur Industrie 4.0 ausbremst? – Man muss ja nur mal nach Südkorea oder Singapur fliegen, um zu erleben, was LTE leisten kann.
Jasperneite: In einer Zukunftskonferenz vor einigen Wochen in OWL haben uns drei Minister aus NRW versprochen, dass das Thema in drei Jahren vom Tisch ist und jeder Haushalt einen Anschluss mit mindestens 50 Mbit/s haben wird. Das reicht natürlich nicht für alle Zeiten, ist aber ein guter Startpunkt. Das Geld kommt vom Bund und von NRW.
Herr Prof. Jasperneite, vielen Dank für Ihre Zeit.