Interview mit Prof. Jürgen Jasperneite

»Bei Industrie 4.0 erwarten alle etwas Disruptives«

21. September 2016, 12:39 Uhr | Frank Riemenschneider
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Fortsetzung des Artikels von Teil 1

"Einen einzelnen Geräteentwickler interessieren von den 200 Normen vielleicht nur drei"

Die SmartFactoryOWL, in welcher nicht realitätsnahe, sondern reale Produktionsprozesse aufgesetzt wurden, bildet die gesamte Wertschöpfungskette ab.
Die SmartFactoryOWL, in welcher nicht realitätsnahe, sondern reale Produktionsprozesse aufgesetzt wurden, bildet die gesamte Wertschöpfungskette ab.
© Hochschule Ostwestfalen-Lippe

Dass die abstrakte Architektur RAMI in Standards und Normen runtergebrochen werden muss, steht ja außer Zweifel. -Alleine in einer Unterarbeitsgruppe »Verwaltungsschale« wurden 200 existierende Normen identifiziert, die mit RAMI abgeglichen werden müssen, um daraus eine Normen-Roadmap zu generieren. Doch was darf man sich konkret darunter vorstellen?

Jasperneite: RAMI hat ja nun nicht nur die Geräte-Sicht, sondern auch eine Life-Cycle-Sicht, es hat eine Sicht über die einzelnen Assets wie Maschinenteile, Anlagen, Fabriken und auch die ganzen Kommunikationsschichten. Dieses komplexe Gebäude ist heute nicht unbewohnt, es hat ja in der Vergangenheit auch schon Standards für die einzelnen Facetten gegeben. Die Aufgabe besteht nun darin, zu schauen, wo passt was hin. Da muss man nicht unbedingt anfangen, etwas neu zu spezifizieren, sondern nur an den weißen Flecken. Dass durch Industrie 4.0 200 Normen betroffen sind, zeigt ja nur die Komplexität auf. Einen einzelnen Geräteentwickler interessieren von den 200 Normen vielleicht nur drei. Und einen Entwurfswerkzeughersteller interessieren vielleicht fünf andere.

Das ist zwar interessant, beantwortet aber die Frage nicht, wie man Industrie 4.0 für Mittelständler nutzbar macht!

Jasperneite: Ein Mittelständler hat im Gegensatz zu Bosch oder Siemens keine Entwicklungsabteilung mit Ressourcen, die sich ausschließlich dem Thema Industrie 4.0 widmen können. Die kommen daher nicht aus eigenem Antrieb so schnell in Fahrt, wie es erforderlich ist. Also soll nun ähnlich der medizinischen Grundversorgung eine flächendeckende Versorgung mit Ansprechpartnern aufgesetzt werden, indem das Bundeswirtschaftsministerium sogenannte Kompetenzzentren für den Transfer in den Mittelstand fördert, zu deren ersten fünf auch wir hier in OWL gehören. Mittlerweile gibt es schon zwölf.

Welche Hilfestellungen gibt es denn konkret? Ich höre immer, sie sollen helfen, sich dem Thema Industrie 4.0 zu nähern. Das heißt alles oder nichts …

Jasperneite: Die Kompetenzzentren haben eine sogenannte Befähigungskette aufzubauen, beginnend mit qualifizierten Informationsangeboten, um im Mittelstand eine einheitliche Sicht darauf zu generieren, was Industrie 4.0 überhaupt ist. Das Schlimme ist: Es gibt derzeit viel Wildwuchs und viele selbsternannte Industrie-4.0-Experten.

Deswegen wollen Sie nicht Industrie-4.0-Papst oder -Guru genannt werden …

Jasperneite: Auf gar keinen Fall. Wenn überhaupt, dann Industrie-4.0-Aktivist. Bei der Vielschichtigkeit von Industrie 4.0 kann es gar keine Person oder Organisation mit Anspruch auf Deutungshoheit geben.

Und wie sieht jetzt diese einheitliche Sicht auf Industrie 4.0 konkret aus?

Jasperneite: Die muss erstmal konsolidiert werden, weil bisher jeder seine Partikularinteressen und Sichtweisen reinbringt.

Aha, derzeit also keine einheitliche Sicht. Nun gut, was kommt nach der Information?

Jasperneite: Wenn ein Mittelständler sagt, aha, scheint interessant zu sein, dann will er als nächstes etwas sehen und anfassen. Dazu wird es eben auch Demonstrationszentren geben, also Schaufenster-Fabriken. Die sollen dazu dienen, dass ein Mittelständler sich bestimmte Dinge in Aktion ansehen kann.

Auch das ist schön, beantwortet aber noch immer nicht die Frage, wie dieser Mittelständler das Ganze für sich nutzen kann.

Jasperneite: Richtig, und jetzt kommen wir nach Informieren und Demonstrieren zum dritten Punkt der Befähigungskette: Wenn er sagt, das sieht gut aus in der Demo-Fabrik, dann müssen Leitungsangebote da sein, in die Unternehmen reinzugehen, dort den aktuellen Digitalisierungsgrad individuell zu erheben und dann mit unseren Technologie- und Methodenbaukästen zu sagen, hier sollten wir ansetzen. Damit glauben wir, dass wir auch kurzfristig wirkende Hebel haben, die das Unternehmen mit Digitalisierung in eine bessere Situation bringen.

Der Mittelständler kann sogar seine Maschinen zu Ihnen mitbringen, richtig?

Jasperneite: Richtig, er kann seine Maschinen in unsere SmartFactoryOWL für Pilotprojekte bringen, wir reichern sie dann mit Industrie-4.0-Technologien an. In diesem geschützten Raum außerhalb seiner eigenen Produktion kann der Unternehmer dann evaluieren, was ihm die Digitalisierung für seine Maschinen und Prozesse bringt und wo er eventuell auch noch Qualifizierungsbedarf für seine Mitarbeiter hat.

Große Teile des Mittelstandes stehen Industrie 4.0 skeptisch gegenüber, weil unklar ist, wie hoch die Produktivitätsgewinne durch Vernetzung wirklich sein werden. Inwieweit kann Ihre Forschungsfabrik konkret bei derartigen Berechnungen für individuelle Produktionsprozesse helfen?

Jasperneite: Das ist die zweite Seite der Medaille. Wenn er einen Teil seiner Wertschöpfungsprozesse mitgebracht hat und wir gemeinsam mit dem Unternehmen Produktivitätsgewinne evaluiert haben, sieht er an Hand der verbauten Komponenten und optimierten Prozesse gleich, was ihn das kosten wird und was er verbessern muss. Man kann somit seine Investitionsentscheidung absichern. Unternehmer sind ja meistens keine Patrioten oder Leute, die schon ihr Leben lang z. B. Big-Data machen wollten, sondern möchten primär den konkreten wirtschaftlichen Nutzen kennen.

Viele Unternehmen haben Angst vor Hackern und vertrauen nicht auf Security-Technologien in einer vernetzten Welt. Was, Herr Professor, sagen Sie denn diesen Kunden?

Jasperneite: Da bin ich optimistischer als viele andere, es wird sicher nicht an den Technologien und Verfahren für IT-Sicherheit scheitern. Wir müssen uns allerdings von der Vorstellung hundertprozentiger Sicherheit verabschieden. Das ist typisch deutsche Mentalität, doch das Leben birgt auch Risiken. Auch heute vertrauen wir in vielen Alltagssituationen vernetzten Systemen. Es gibt Mechanismen, Sicherheit nach aktuellem Stand der Technik zu implementieren, die kontinuierlich weiterentwickelt werden. Man muss aber auch mit einem vertretbaren Aufwand vernetzen können. Und dann haben wir gerade in der Industrie ein Legacy-Problem: Viele eingesetzte Embedded-Systeme bieten nicht die Möglichkeit, aktuelle Sicherheitsmechanismen überhaupt oder zu einem vertretbaren Preis zu implementieren.

Big-Data-Analyse bringt in vielen Geschäftsmodellen Nutzen, bedingt aber eine wie auch immer geartete sichere Cloud, die ebenfalls Ängste hervorruft. Können Sie die zerstreuen?

Jasperneite: In diesem Kontext werden leider besonders viele Ängste geschürt. Was ist denn eine Cloud überhaupt? Letztendlich ist es immer ein Rechner, der irgendwo steht. Wenn Sie zu einem Public-Cloud-Anbieter gehen, wissen Sie nicht immer, wo Ihre Daten liegen. Es gibt aber auch Anbieter, die Ihnen sagen können, wo Ihre Daten liegen, was vielleicht besser ist, als wenn das total beliebig ist. Wenn das für Sie keine Option ist, dann können Sie im Zweifel die Rechner auch bei sich im Keller aufstellen.

Viele Firmen sagen ja: Meine Daten kommen nie in die Cloud. Wenn man nachfragt, ist das Problem, dass sie das Gefühl haben, sie geben ihre Daten an irgend¬jemanden ab – was sie stört!

Jasperneite: Das ist nachvollziehbar, aber es kann das ja gerade der Gag sein, dass Dritte mit diesen Daten Wertschöpfung treiben! Sie müssen nur steuern können, wer auf welche Daten zugreifen kann. Man muss seitens der Plattformanbieter vertrauensvolle Maßnahmen bilden, schon in eigenem Geschäfts¬interesse. Und eines ist klar: Das spannende an Industrie 4.0 ist, was kann aus Daten entstehen. Wenn Sie sich dem verweigern, kommen Sie aus Ihrem Silo nicht heraus.


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