Der Nocebo-Effekt sorgt dafür, dass Menschen physiologische Symptome auch ohne nachweisbare Ursachen entwickeln. Das Nocebo (lateinisch: »ich werde schaden«) bezeichnet im Gegensatz zum Placebo (lateinisch: »ich werde nutzen«) ein medizinisches Präparat, das ohne physiologisch wirksame Inhaltsstoffe schädliche Auswirkungen hat. Der Placebo-Effekt ist erwünscht und lange bekannt: wirkstofflose Präparate heilen, weil sie psychologisch positiv besetzt sind, wenn Suggestion und der psychosozialer Kontext stimmen.
Umgekehrt funktioniert das leider auch. In einer US-Studie vertrugen Patienten, die berichteten, unter einer Penicillin-Allergie zu leiden, zu 97 Prozent die direkte orale Gabe von Penicillin sehr gut. Die »Allergien« mussten etwas mit dem Nocebo-Effekt zu tun haben.
Dass die Erwartungshaltung das eigene Befinden steuert, hat sich in vielen Studien bestätigt. Von Versuchspersonen, die glaubten, dass milder elektrischer Strom durch ihren Kopf geleitet würde, der Kopfschmerzen erzeugen könne, entwickelten zwei Drittel Kopfschmerzen, obwohl nie Strom durch die Elektroden floss. Nahrungsmittelallergiker entwickelten auf die Gabe von Kochsalzlösung hin ihre typischen Allergiesymptome, weil sie im Glauben waren, die allergieauslösende Substanz zu erhalten. Eine weitere Studie unterteilte ihre Teilnehmer in vier Gruppen: einer wurde ein muskelentspannendes Mittel verabreicht, einer weiteren wiederum ein muskelentspannendes Mittel, aber mit der Mitteilung, es handele sich um ein Stimulans. Die dritte Gruppe erhielt eine als Muskelentspanner beschriebene Zuckerpille und die vierte Gruppe eine als stimulierendes Medikament bezeichnete Zuckerpille. Selbst das muskelentspannende Medikament wirkte auf die Versuchspersonen stimulierend, wenn es denn nur als Stimulans »verkauft« worden war.
Dr. Michael Witthöft von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat in einer Studie untersucht, ob reißerische Medienberichte als »Selbst Erfüllende Prophezeiungen« die Intoleranz gegenüber elektromagnetischen Feldern fördern. Sein Ergebnis: Gesundheitsrisiken dramatisierende Medienberichte können bei sensiblen Personen Nocebo-Effekte auslösen und verschlimmern. Dr. Witthöft sagt: »Allein die Erwartung einer Schädigung kann tatsächlich Schmerzen oder Beschwerden auslösen, wie wir es umgekehrt im Bereich schmerzlindernder Wirkungen auch von Placebo-Effekten kennen.« Elektromagnetisch hypersensitive Personen ziehen sich mitunter völlig zurück, nur um sich von als unangenehm oder krank machend empfundenen elektrischen Feldern fernzuhalten. Schuld daran ist laut Dr. Witthöft der Nocebo-Effekt: »Tests haben allerdings gezeigt, dass Betroffene nicht unterscheiden konnten, ob sie tatsächlich elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind und dass ihre Symptome genauso von einer Scheinexposition ausgelöst werden können, wie von realer Strahlung«.
In der am King’s College in London mit G. James Runi durchgeführten Studie wurde einem Teil der 147 Testpersonen eine dramatisierende Sendung über Mobilfunk- und WLAN-Strahlen gezeigt, der anderen Teilgruppe ein Bericht über die Sicherheit von Internet- und Handy-Verbindungen. Danach setzte man die Teilnehmer einem »glaubwürdigen« WLAN-Scheinsignal aus. Auch ohne vorhandene Strahlung klagten 54 Prozent aller Testpersonen über Beklemmung, Beunruhigung, Konzentrationsbeeinträchtigungen und Kribbeln in den Gliedmaßen.
Zwei Teilnehmer mussten den Versuch wegen unerträglich starker Symptome ganz abbrechen. Am stärksten litten die Teilnehmer, die denen man zuvor die Dokumentation der BBC über Strahlengefahren gezeigt hatte. Die suggestive Kraft der Medien ist nicht nur ein Kurzzeitphänomen, sie kann auch langfristig bei empfänglichen Personen zu Reaktionen auf vermutete elektromagnetische Strahlungen führen.
Für Dr. Witthöft ist klar: »Die Wissenschaft und die Medien müssen unbedingt stärker zusammenarbeiten und sich darum bemühen, dass Berichte beispielsweise über mögliche Gesundheitsrisiken neuer Technologien so wahrheitsgetreu wie möglich und nach bestem Wissensstand an die Öffentlichkeit gelangen«.
Was können angesichts dieser Lage Technologie-Hersteller, -Implementierer und Politik tun, um sachliche Diskussionen zu ermöglichen und nicht in die Falle selbst erfüllender Nocebo-Dramen zu geraten? Vor allem, sich des Nocebo-Effektes bewusst zu sein und ihn »behutsam« als Realität anzuerkennen. Haupt- und nebenberuflichen Umwelt- und Technologie-Apokalyptikern darf man durchaus etwas selbstbewusster die alte medizinische Weisheit Paracelsus vorhalten: »Dosis facit venum« - die Dosis macht das Gift. Auch und gerade beim täglichen Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums.