Trends auf dem Weg zur Industrie 4.0

»Die Großen kaufen gezielt agile, innovative KMU«

24. Februar 2022, 20:57 Uhr | Andreas Knoll
Tobias Seige, Cowen: »Automatisierung ist die einzige Antwort.«
© Cowen

5G, Cobots und AMR sowie Open Source und App-Stores: Das sind die Trends auf dem Weg hin zu Industrie 4.0. Doch welche Auswirkungen haben die Pandemie und die mögliche De-Globalisierung auf die aktuelle Entwicklung? Tobias Seige, Partner der Beratungsgesellschaft Cowen, erläutert die Hintergründe.

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Elektronik: Welche Bedeutung kommt Ihres Erachtens 5G generell für die digitale Transformation in Richtung Industrie 4.0 und speziell für die Robotik zu?

Tobias Seige: Wenn wir zehn Jahre in die Zukunft schauen, wird es weniger Roboter geben, die noch in geschützten Bereichen stehen. Dann werden fast alle Roboter kollaborativ sein, also mit Sensorik und Intelligenz, sprich Software-Stacks, ausgestattet sein. Und sie werden sich problemlos mittels Plug-and-Play in ein Arbeitsumfeld integrieren lassen, wofür es heute noch Ingenieuren und aufwändiger Prozesse bedarf.

In Zukunft wird es einfache Benutzeroberflächen geben, die mit der User-Experience von Apple vergleichbar sind. Darüber können dann die Funktionalitäten, die man abbilden möchte, ganz leicht aufgerufen werden. So wird es sehr einfach sein, die Inbetriebnahme von Robotern zu realisieren. Zudem werden die Benutzeroberflächen/Apps ein offener Markt sein, in dem jeder, der sich mit Automatisierung und Robotik beschäftigt, seine Applikationen einstellen kann. Dafür wird es natürlich ein gewisses Monetarisierungsmodell geben, aber im Prinzip wird es eine Kopie davon sein, was wir von Apple und Android schon heute kennen.

Wir Menschen werden uns relativ schnell daran gewöhnen, mit Maschinen und Robotern zu kommunizieren. Das wird vom Speisen-und-Getränke-Bringen bis hin zum Smalltalk reichen.

Hinzu kommt die Autonomisierung von Robotik und Automatisierung durch die Kommunikation der Maschinen untereinander. Die entscheidende Voraussetzung für all diese Anwendungen ist 5G. Das Ergebnis wird noch einmal eine deutliche Produktivitätssteigerung sein, die über eine logistische, zentralistische Fabriksteuerung aktuell gar nicht möglich ist.


Wie sehen Sie die Zukunft drahtloser und drahtgebundener Kommunikationstechniken generell in der Industrie?

Die Faktoren Datenübertragung und Datenübertragungsraten werden weiter exponentiell wachsen. 5G wird aber das Festnetz nicht ersetzen, sondern ist komplementär. Wir werden künftig Datenübertragungsraten benötigen, die auch in überschaubarer Zukunft nicht mit mobiler Datenübertragung möglich sein werden.

Nur ein plakatives Beispiel: In absehbarer Zeit werden wir real an einem Besprechungstisch sitzen, und einer oder mehrere Gesprächspartner sitzen uns als holografisches Bild gegenüber. Für solche und viele anderen Anwendungen werden wir auch künftig Festnetz und Glasfaserkabel benötigen.

Das eben Gesagte gilt auch für Produktionsprozesse: Heute sind wir in der Lage, Prozessdaten in Echtzeit abzugreifen und auszuwerten. Vor wenigen Jahren war es gar nicht möglich, solch gigantische Datenmengen zu handhaben. Das schafft natürlich enorme Möglichkeiten, die Qualität der Herstellprozesse noch einmal zu verbessern.

Mit den erhaltenen Daten kann eine Rückkopplung in den Prozess gegeben und dieser so permanent optimiert werden. Heraus kommt am Ende ein fehlerfreies Produkt, im wahrsten Sinne des Wortes.


Wie werden sich die Marktanteile der kollaborativen Leichtbaurobotik gegenüber der klassischen Industrierobotik entwickeln?

Der Weg führt in Richtung von Robotern, die taktile Fähigkeiten haben und sehr feinfühlig Operationen durchführen können. Sie sind kollaborativ und können ohne einen Schutzzaun direkt mit Menschen interagieren. Die Investitionen für solche Roboter werden dramatisch sinken, von derzeit über 100.000 Euro auf weniger als 10.000 Euro pro Einheit. Zudem werden diese Roboter sehr einfach in Betrieb zu nehmen sein und via 5G problemlos miteinander kommunizieren können.

Mit dem letztgenannten Punkt schafft 5G den Durchbruch gegenüber der heutigen Situation. Aktuell gibt es noch ein Mastersystem, das alle Fäden in der Hand hält und Befehle oder Aufgaben nach unten verteilt. Die einzelnen Roboter melden dann Vollzug und bekommen anschließend die nächsten Aufgaben. In Zukunft werden die Maschinen direkt miteinander reden, ohne ein übergeordnetes System, das intervenieren müsste. Ein Beispiel sind autonom fahrende Roboter. Früher sagte man „Fahrerlose Transportsysteme (FTS)“, heute heißen sie „Autonomous Mobile Robots“ (AMR).

Moderne AMR verfügen über eine komplexe Sensorik und fahren selbstständig in einer Fabrik von A nach B, sobald ein Auftrag kommt. Dabei kommunizieren sie miteinander, wer den kürzesten Weg hat und den Job am effizientesten ausführen kann. Übergeordnete Systeme braucht es dafür nicht mehr. Solche AMR sind mit komplexen Navigationssystemen ausgestattet und wissen sehr genau, wie die betriebliche Situation aussieht und ob etwa irgendwo ein Gang zugestellt ist. Der Roboter, der den kürzesten Weg hat, übernimmt im Roboter-Team den Auftrag.


Inwieweit könnten die Corona-Pandemie und die derzeit von vielen Beobachtern erwartete bzw. festgestellte De-Globalisierung Auswirkungen auf die digitale Transformation in Richtung Industrie 4.0 sowie die Durchsetzung von 5G und kollaborativer Leichtbaurobotik in der Industrie haben?

Die Corona-Pandemie beschleunigt zweifellos die digitale Transformation. Wir sehen gerade, dass - industriepolitisch gewollt - das Reshoring bestimmter Industrien und Fertigungsprozesse vorangetrieben wird. Vergleicht man etwa die Faktorkosten bei uns mit denen in Vietnam, dann wird schnell klar, dass die einzige Antwort die Automatisierung ist.

Bei Cowen haben wir einen mittelständischen Hersteller kennengelernt, der Roboter mit seinen eigenen Robotern herstellt. Der Hersteller hat eine Produktionsstraße für sein Werk mit 50 eigenen Robotern in der Rekordzeit von nur vier Wochen aufgebaut und in Betrieb genommen. Das war nur möglich, weil die Roboter mit einem einfachen Teach-in in Betrieb genommen werden, sich untereinander sehr intensiv über alle Prozesse austauschen und lernen. Früher hätten Planung, Konstruktion und Aufbau einer solchen automatisierten Produktionsstraße mindestens ein Jahr gedauert.


Inwieweit beeinflussen Corona-Pandemie und De-Globalisierung sowie die digitale Transformation der Industrie mitsamt 5G und kollaborativer Leichtbaurobotik das Konsolidierungsverhalten bzw. die Mergers-and-Acquisitions-Aktivität in der Industrie? Gehen die Acquisitions eher von industriellen Acquisiteuren oder eher von Finanzinvestoren aus?

Wir sehen sowohl Finanzinvestoren als auch Industrieunternehmen als Kaufinteressenten. Große Industrieunternehmen haben verstanden, dass wichtige Innovationen häufig aus kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie Startups kommen. Deshalb kaufen sogenannte strategische Investoren heutzutage gezielt Innovationen durch den Erwerb kleiner, agiler Unternehmen.

Manchmal braucht es aber Finanzinvestoren mit einem etwas höheren Risikoappetit. Sie können ein Startup oder mittelständisches Unternehmen mit ihrem Wagniskapital auf ein neues Niveau heben und damit die Go-to-Market-Risiken oder Technologie-Risiken minimieren.

Aus unserer Sicht braucht es beide Arten von Investoren. Strategen sind heutzutage sehr aktiv und kaufen sich Innovationen ein, weil sie genau wissen, dass sie auch mit einer großen Organisation in einer sich immer schneller weiterentwickelnden Welt Antworten finden müssen auf die Trägheit der schieren Größe.


Welche wirtschaftliche und technische Bedeutung haben Open-Source- und App-Shop-Konzepte in der industriellen Automatisierung aktuell und in Zukunft?

Open-Source- und App-Konzepte als Benutzeroberfläche für die vereinfachte Inbetriebnahme eines Roboters werden massiv an Bedeutung gewinnen, auch um das kollektive Wissen dieses Planeten einzusammeln. Die Applikations-Oberflächen, die wir heute schon für viele Anwendungen von Apple und Android kennen, wird es in Zukunft auch in der Robotik geben.

Unser oben erwähnter Robotik-Kunde hat etwa einen Software-Stack entwickelt, der Roboter untereinander vernetzt. Die einfache Inbetriebnahme ist dabei ein wesentliches Element der Software und der Benutzeroberfläche.

Auch eine offene Schnittstelle gehört eindeutig dazu. So können problemlos auch markenfremde Roboter miteinander interagieren. Dass die Software-Landschaft dabei offen für jeden ist, gehört zum Konzept. Denn es gibt drei Dogmen in diesem Bereich, die jeder in der Branche kennt: 1. Software eats Hardware. 2. Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. 3. Scale is everything.

Deshalb stellen innovative Roboterhersteller ihre Plattform anderen zur Verfügung, wohl wissend, dass diese damit sehr viel schneller wachsen können.


Welche wirtschaftliche und technische Bedeutung hat das Thema Cybersecurity in der Industrie aktuell und in Zukunft? Welche Konzepte werden sich hier durchsetzen?

Cybersecurity ist ein überragendes Thema und wird dadurch, dass immer mehr automatisiert und digitalisiert wird, weiter an Bedeutung gewinnen. Wer das nicht löst, im Sinne von Sicherungsmechanismen, der macht sich beliebig angreifbar.

Auch 5G schafft hier neue Möglichkeiten für Cybersecurity, weil man darüber eigene Netze aufbauen kann. Siemens etwa hat ein eigenes 5G-Netz und verknüpft seine Fabriken darüber. Solch ein unternehmenseigenes Übertragungsnetz schafft zusätzliche Sicherheit.

 

Tobias Seige

ist Partner bei Cowen. Er begleitet Firmen bei internationalen M&A-Transaktionen, Carve-Outs und Restrukturierungen. Bevor er 2004 als Partner zu Blue Corporate Finance, später Quarton International und heute Cowen, kam, war er CEO der Trident Components Group Ltd, einer pan-europäischen Gruppe, spezialisiert auf die Entwicklung und Produktion von Leichtmetall-Komponenten für die Automobilindustrie, die er gründete, zehn Jahre aufbaute und 2003 verkaufte. Davor war er zwölf Jahre bei VDO Adolf Schindling AG, Frankfurt, einem der weltweit größten Automobilzulieferer für Instrumente, Sensoren und Elektronik als Mitglied der Geschäftsleitung mit globaler Verantwortung tätig. Tobias Seige ist Diplomingenieur (ETH Zürich) und MBA und sitzt im Aufsichtsrat diverser europäischer Firmen.


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