Worauf muss sich der »Distributionsmarkt« Europa in der nahen Zukunft einstellen? Nennen wir es die drei »V«: Verschiebung, Verfügbarkeit und Vorschriften.
Eine Verschiebung der Marktverhältnisse findet bereits seit einigen Jahren statt - früher von Westeuropa nach Südeuropa, seit über zehn Jahren verstärkt von West- und Nordeuropa nach Osteuropa und mittlerweile auch von Südeuropa nach Osteuropa. Ausnahme ist scheinbar Deutschland. Die deutsche Produktionsbasis in der Elektronik blieb relativ stabil, und es sieht nicht so aus, als würde sich eine Abwanderungswelle entwickeln. Heute sind Deutschland und Osteuropa rund 50 Prozent des europäischen Distributionsmarktes, in wenigen Jahren könnten es bis zu zwei Drittel sein. Am stärksten verlieren Frankreich, Italien, Spanien und Nordeuropa. Bei letzterem müsste man jedoch das Baltikum dazu rechnen, das eine reine Produktionsbasis für Schweden und Finnland geworden ist, damit wäre Nordeuropa wieder stabil. Diesen Luxus haben west- oder südeuropäische Länder kaum.
Verfügbarkeit heißt nichts anderes, als dass eine Region mit geringerer globaler Bedeutung auch in künftigen Aufschwungphasen sicher nicht an erster Stelle steht, wenn es darum geht, Produkte neuester Technologie zu bekommen. Das kann zwar je nach Kundengröße ein wenig anders sein, aber was in Europa fehlt, sind große Plattformen (Equipment mit riesigen Stückzahlen), für die es sich bei den Komponentenherstellern zu entwickeln lohnt. Dies hat auch Auswirkungen auf die Preise. Europa ist ein Hochpreismarkt und läuft damit immer Gefahr, die Wettbewerbsfähigkeit auf der Innovationsseite durch ökonomische Nachteile bei der Komponentenbeschaffung wieder einzubüßen. Distributoren unterliegen den gleichen Mechanismen und kämpfen mit Preis- und Verfügbarkeitsnachteilen im Aufschwung und mit Preisnachteilen, sollte der Markt zurückgehen.
Bei den Vorschriften handelt es sich um die allgemeine Bürokratie in Europa, die es hiesigen Unternehmen nicht leichter macht, ihrer normalen Tätigkeit nachzugehen. Umwelt-, Sicherheits- und Rückverfolgbarkeitsvorschriften und Gesetze machen aus Elektronikprodukten in der Zwischenzeit problematische Güter mit »Beipackzetteln, Aufklebern und Nebenwirkungserklärungen«, mit einem klaren Ungleichgewicht zwischen Aufwand und Nutzen. Spöttischerweise könnte man sagen: Was nützt die völlige Transparenz und Unbedenklichkeit eines Produktes, wenn es niemand mehr herstellen oder sich leisten kann?
Leider werden uns diese drei »V« als Megatrends die nächsten Jahre begleiten und zum Teil unser Tagesgeschäft bestimmen. Möglicherweise kommt ein weiterer Trend hinzu, der mehr auf der unternehmensstrategischen Ebene wirkt und bereits heute seine Spuren zieht. Es handelt sich um die Überalterung der Elektronikindustrie (das V-Synonym verkneife ich mir). Das zunehmende Nachwuchsproblem - das Fehlen qualifizierter Fachkräfte - betrifft viele Branchen, aber im Ingenieurwesen und damit auch in der Elektronikindustrie ist es besonders prägnant. Am schwierigsten zu besetzen sind Spezialistenjobs wie zum Beispiel Applikationsingenieure. Dies wird sich verschärfen, weil der Nachwuchs von den Universitäten fehlt. »Gottseidank« schrumpfe die Industrie und steige die Produktivität, meint der Sarkastiker. Aber im Ernst, die Branche muss sich überlegen, wo der Nachwuchs von morgen her kommt. Zwei Fragen sollte jedes Unternehmen für sich selbst beantworten: Fördern wir den Nachwuchs im Vorfeld der Berufstätigkeit genug? Bieten wir jüngeren Generationen überhaupt ein attraktives Arbeitsumfeld? Die Zukunft von Europas High-Tech-Industrie wird sich nicht nur an der globalen Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch daran entscheiden.
Unabhängig davon, wie sich der Markt 2012 konkret entwickelt: Die Herausforderungen werden nicht nur Industrie-intern, sondern auch gesellschaftlich sein. Die Entwicklung in der Elektronikindustrie spiegelt nur wider, was auch in der Gesellschaft vorgeht: Gibt es genügend Innovationskraft, um im globalen Entwicklungsspiel mitzuhalten? Und zwar nicht zwingend in Großunternehmen, die meist schon in Shanghai entwickeln und produzieren, sondern in kleinen und mittleren Unternehmen, die nicht zufälligerweise auch Distributionskunden sind? Aus Distributorensicht sind dies die wahren Marktführer. Mit ihnen zusammen gilt es Wege zu künftigem Wachstum zu finden. Mit möglichst wenig bürokratischen Hürden.