Wie reagieren Gesellschaften, die sich einer solchen Verunsicherung durch technischen Wandel ausgesetzt fühlen? Nassehi geht zurück bis Sokrates. Er fühlte sich durch die Einführung der Schrift verunsichert, sah im Gespräch die einzige sichere Methode, Erkenntnisse zu gewinnen. Im Gespräch können wir nachfragen, wie etwas gemeint ist. Sobald etwas schriftlich niedergelegt ist, und jemand außerhalb der Gesprächssituation liest es, könnte er es falsch interpretieren. Die Schrift macht unterschiedliche Interpretationen möglich, die Folge: Unsicherheit.
Solche Unsicherheiten können dramatischere Auswirkungen haben, als es dieses Beispiel auf den ersten Blick erkennen lässt. Zur Einführung des Buchdrucks stand die Bibel plötzlich vielen zur Verfügung, nicht nur in Latein. Der Kreis der potenziellen Interpretatoren beschränkte sich nicht mehr nur auf einen Kreis von Profi-Interpreten, ausgebildet in bestimmten Traditionen und Zirkeln, jetzt konnte jeder die Schrift auslegen. Also waren unterschiedliche Auslegungen möglich: für die Kirche - aber auch für die Gläubigen - ein relevantes Sicherheitsproblem. Die Antwort war: autoritäre Experten, die abweichende »Hobby-Interpreten« mit drastischen Mitteln an ihrem Tun hinderten.
Als das neue Medium der Zeitung in die Welt massiv Einzug hielt, bildeten sich im 19. Jahrhundert ebenfalls Expertengruppen heraus, die entschieden, was für die Berichterstattung von Relevanz ist, was also gedruckt wird und was nicht. »Solche ’Sicherheits-Tools’ hat die Gesellschaft jedes Mal in Phasen des technischen Umbruchs entwickelt, um Sicherheitsprobleme zu lösen«, so Nassehi.