Moderne Elektronik spielt auch in der Archäologie eine immer größere Rolle. Das gilt im Besonderen für die Messtechnik. Gelegentlich kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Zeugnisse antiker Kulturen sich schonender Untersuchungsmethoden hartnäckig widersetzen. In solchen Fällen ist Improvisationstalent gefragt.
Ausgerechnet in Blei ritzten die Mandäer, eine Religions- und Sprachgemeinschaft auf dem Gebiet des heutigen Irak, vor über 1500 Jahren ihre religiösen Texte. Die Bleiplättchen wurden aufgerollt und dann vermutlich in einem Amulett am Körper getragen. Beim Entrollen werden die Blättchen und die darauf befindlichen Texte im Allgemeinen unwiederbringlich zerstört. Die Tatsache, dass die mesopotamischen Handwerker 99,5% hochreines Blei verarbeiteten, erschwert die Untersuchung beispielsweise mit Röntgen-Computertomographen.
Da die weit verbreiteten medizinischen Tomographen keine hohe Spannung erzeugen und bei einer 3D-Auflösung von circa einem halben Millimeter die feinen, mit einer spitzen Nadel nur etwa 30 µm tief in das Blei geritzten Schriftzeichen nicht hätten auflösen können, konnte nur hochauflösende industrielle Mikrofokus-CT weiterhelfen. Da bei derartigen CT-Systemen die Probe bis dicht vor den Brennfleck der Röntgenröhre gefahren wird, kann mit ihrer Hilfe ein geometrisch stark vergrößertes Röntgen-Durchstrahlungsbild auf den Digitaldetektor geworfen werden. Nur ein an die gewünschte Auflösung angepasster mikrometergroßer Brennfleck gewährleistet dabei scharfe Röntgenbilder auch bei hohen Vergrößerungen.
Durch Rotation des Objekts entstehen hunderte solcher 2D-Projektionsbilder. Sie werden dann zu einem 3D-Volumen rekonstruiert, in dem ein spezifischer Grauwert für jedes Volumenpixel (Voxel) Rückschlüsse auf das jeweilige Material und seine Dichte erlaubt. Eine hohe Röntgenabsorption an einem bestimmten Punkt steht somit für Blei, eine sehr geringe für die Luft in den feinen Ritzen.
Im Rahmen ihrer Masterarbeit untersuchte eine Berliner Restauratorin eine solche Bleirolle und stieß auf die aktuellen Mikrofokus-Computertomographen von GE Inspection Technologies. Das Unternehmen hatte kurz zuvor eine unipolare 300-kV-Mikrofokus-Röntgenröhre entwickelt. Integriert in ein CT-System des Typs »phoenix v|tome|x 300« bietet sie aufgrund ihrer unipolaren Bauart besonders hohe geometrische Vergrößerungen.
Im GE-Applikationszentrum zeigte sich, dass die Bleirolle bei 290 kV - also knapp unterhalb der maximalen Arbeitsspannung der Röhre - tatsächlich durchstrahlt werden konnte. Da das spröde Blei in den vielen Jahrhunderten bereits diverse Risse und Brüche erlitten hatte und außen auch bereits ein paar Zeilen unwiederbringlich abgebrochen waren, wurde die Rolle sicher in Papier gewickelt und vor der Röntgenröhre auf einem Drehtisch fixiert. Der eigentliche CT-Scan dauerte in dem Tomographen mit seinem temperaturstabilisierten Digitaldetektor etwa 50 Minuten.
Das aus der Serie von 1200 aufgenommenen 2D-Röntgendurchstrahlungsbildern rekonstruierte 3D-Volumen erlaubte es bei einer Voxelgröße von 22 µm tatsächlich, die mandäischen Schriftzeichen in den äußeren, nicht so stark korrodierten Windungen im Innern der Rolle sichtbar zu machen.
Um die Schrift auch tatsächlich lesbar zu machen, war es notwendig, das 3D-Volumen der gescannten Bleirolle virtuell zu entrollen. Doch selbst die 3D-Datenanalysesoftware »VGStudio MAX« ermöglichte bisher nur das Anlegen virtueller Schnitte. Das heißt, man hätte das 3D-Volumen der Rolle aufwändig in Dutzende kleiner Scheiben zerlegen müssen, die aufgrund der Rundung und Deformierung der Rolle jeweils nur ein paar einzelne Schriftzeichen sichtbar gemacht hätten. Doch auch hier war nach eineinhalb Jahrtausenden die technologische Entwicklung gerade so weit, dieses Problem zu lösen: Volume Graphics hatte gerade in seiner Version 2.2 von »VGStudio MAX« erstmals ein Werkzeug vorgestellt, mit dem nicht-lineare Oberflächen wie Kugeln oder Zylinder in einem planaren Bild dargestellt werden können.
Was ursprünglich eine deutliche Erleichterung bei der Analyse von gescannten technischen Objekten wie etwa Reifenprofilen bringen sollte, konnte nun die Entzifferung der antiken Schriftzeichen signifikant erleichtern. Allerdings sah das neue Werkzeug nur die virtuelle Abrollung entlang einer vom Benutzer definierten Linie vor, was bei geometrischen Technikobjekten völlig ausreicht. Die antike Bleirolle war jedoch sehr komplex deformiert.
Um das Entziffern und Übersetzen der uralten Botschaft im Kontext zu ermöglichen, erweiterte das Team von Volume Graphics den Funktionsumfang. Nun lässt sich aus Punkten eine beliebig geformte Fläche definieren, um auch derart komplexe Objekte wie eine aufgerollte und deformierte Bleiplatte planar darzustellen. Auf diese Weise gelang es tatsächlich, im Innern der Rolle insgesamt 41 Schriftzeilen erkennbar zu machen - Spuren einer alten Kultur, die dank modernster Software nun erstmals wieder in einem Stück sichtbar sind. Daraufhin konnte die einzige Expertin für die mandäische Sprache in Deutschland an die Übersetzung gehen und fand eine Beschwörungsformel mit mandäisch gnostischen Elementen für Dašnaya, Tochter der Mahanuš, in der unter anderem von Feuer, verborgenen Lichtern, Dämonen und der »Zauberei des Sarnabu« die Rede ist.