Offene Betriebssysteme und Partner-Ecosystems für die Automatisierung liegen im Trend – sie ermöglichen eine Individualisierung nicht nur der Produkte, sondern ebenso der Produktionsweise. Auch Weidmüller bietet ein solches offenes Betriebssystem an.
Rahman Jamal, Conscious Technology & Business Thought Leader, und Martin Flöer, Strategic Program Manager bei Weidmüller, erläutern die Hintergründe.
Markt&Technik: Was leisten und welche Aufgaben erfüllen offene Betriebssysteme für die Automatisierung?
Rahman Jamal: In der Automatisierungstechnik ist man mit vielen unterschiedlichen Gerätetypen konfrontiert, etwa mit SPSen, Routern, Gateways und Edge-Geräten. Zwischen diesen Geräteklassen verschwimmen die Grenzen zunehmend. Die Software bestimmt dabei den Nutzen der Hardware. Wir kennen es gut aus der Consumer-Welt: eigentlich ist es erst ein paar Jahre her, und doch fühlt es sich an wie ein Schatten längst vergangener Tage. Hatte man früher dedizierte Standalone-Geräte wie MP3-Player, Digitalkamera, Navigationssystem und Mobiltelefone einzeln mitgeschleppt, so trägt man nur noch ein Smartphone in der Tasche und hat all diese Funktionen parat.
Genauso wie die App darüber entscheidet, wie ich mein Smartphone nutze, so entscheidet die Software, welchen Anwendernutzen das Gerät hat. Diese Entwicklung lässt sich aber meines Erachtens am sinnvollsten durch offene Betriebssysteme verwirklichen, die den Anforderungen der Apps, in unserem Fall: Apps für IIoT und Automatisierung, erfüllen.
In welchem Zusammenhang stehen offene Betriebssysteme mit der Entwicklung hin zu Industrie 4.0 und IIoT?
Jamal: Die Smart-Factory-Ausprägung von IIoT, sprich: Industrie 4.0, verlangt viel mehr Kooperationen – und damit auch Offenheit –, als es bisher in der Industrie der Fall war. Ecosystems, Kunden, Partner, Technologie-Provider und Lieferanten müssen stärker zusammenarbeiten. Nur in der Unabhängigkeit kann ein Anwender die Technologien von morgen integrieren, ohne von einem Hersteller abhängig zu sein.
Das ist überaus wichtig, denn was im Tierreich schon immer galt, erkennt die Industrie zunehmend: Nicht die stärkste Art überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern die wandlungsfähigste! Ein geschlossenes System geht davon aus, dass der Hersteller am besten weiß, wie eine Anforderung umzusetzen ist. Damit der Anwender aber wandlungsfähig bleibt und seine Anforderungen immer entsprechend den neuen Gegebenheiten umsetzten kann, braucht es offene Systeme.
Welche Rolle spielen Betriebssysteme für das Zusammenspiel von Cloud und Edge?
Jamal: Ein Edge-Gerät muss immer verfügbar sein, im Hinblick auf die Update-Fähigkeit sowohl des Betriebssystems als auch der Applikationen. Dazu muss das Betriebssystem die wichtigen Funktionen des zentralen Device-Management unterstützen, etwa Device- und Software-Inventory, sprich: eine detaillierte Übersicht der installierten Basis sowie Aktualisieren von Firmware und Applikation. Darüber hinaus müssen Security-Anforderungen erfüllt werden.
Wie sieht es mit der Akzeptanz solcher Betriebssysteme in der Automatisierungstechnik aus?
Jamal: Wie einst bei den klassischen Feldbussen und später bei den Ethernet-Feldbussen erleben wir zurzeit eine neue Welle von Betriebssystemen auf Open-Source-Basis. Aber Vorsicht: So schnell wie in der IT funktioniert die Einigung auf einen Standard in der Automatisierung nach wie vor nicht. Hier lohnt es sich noch, die propagierte Offenheit bezüglich der neuen Betriebssysteme etwas genauer zu prüfen, denn erst beim zweiten Blick erkennt man die versteckten Vendor-Lock-ins, auch wenn all diese Betriebssysteme vordergründig auf Open Source beruhen.
Welche Rolle spielt und welche Aufgaben erfüllt u-OS im Automatisierungs-Portfolio von Weidmüller?
Martin Flöer: u-OS ist die Basis aller Steuerungen, IoT-Gateways und Edge-PCs von Weidmüller. Das heißt, unsere Softwareprodukte lassen sich jetzt durchgängig auf den Geräteplattformen nutzen. Damit wird u-OS zu einem wichtigen Bestandteil unserer Software-Strategie. Für Automatisierungsaufgaben bindet u-OS die Produkte unserer Partner ein, etwa von Codesys und Siemens. Es verbindet Ecosystems und macht die Vorteile verschiedener Software für den Anwender nutzbar.
Welche Rolle spielt u-OS für die OT/IT-Konvergenz in der Industrie?
Flöer: u-OS ist eine Plattform, mit der man flexibel die OT-Welt an die IT-Welt anbinden kann. Die Handhabung von u-OS holt die Anwender dort ab, wo sie zuhause sind – ob IT oder OT. Deshalb ist das Betriebssystem geschaffen für die Automatisierung und das IIoT.
Ob die einfache und präzise Steuerung direkt an der Maschine oder die Integration in IT-Systeme – alles ist möglich. So befähigen wir unsere Kunden, Softwarelösungen direkt auf u-OS zu integrieren und damit das IIoT für ihre Anlage zu verwirklichen.
Wie unterstützt u-OS Anwender, einen sicheren Betrieb der Edge-Geräte zu ermöglichen?
Flöer: Im Gegensatz zur IT-Automatisierung ist bei der Aktualisierung des Systems im IIoT normalerweise keine Interaktion eines Administrators vor Ort möglich. Aus Security-Sicht hat das IIoT aber die gleichen Anforderungen wie die IT. Deshalb haben wir bei u-OS Schnittstellen auf Basis von Open-Source-Projekten integriert, etwa hawkbit und SWUpdate. Damit gewährleisten wir, dass Anwender einerseits die Ende-zu-Ende-Lösung von Weidmüller nutzen können und andererseits das System autark, also unabhängig von Weidmüller, aufrechterhalten können.
Warum verwendet u-OS Linux als Betriebssystem?
Flöer: Für Linux spricht die Verfügbarkeit applikativer Lösungen im IoT-Umfeld. Der Lebenszyklus von Software-Standards aus der IT, etwa von Microsoft, beträgt typischerweise acht bis zehn Jahre. Das ist für die Industrie zu kurz. Bei Linux dagegen hat der Hersteller es selbst in der Hand, wie lange Updates geliefert werden. Damit ist die Unabhängigkeit des Anwenders sichergestellt – und das ist unser großes Ziel.
Was ist mit der Einbindung von Apps?
Flöer: Das ist ein wesentliches Merkmal von u-OS. Bei der Entwicklung haben wir uns rein auf die Betriebssystemfunktionen fokussiert. Alle sogenannten Mehrwertfunktionen lassen sich über Apps installieren. Nutzer können entweder auf Apps von uns und unseren Partnern zurückgreifen oder ihre eigenen auf u-OS installieren.
Inwieweit und zu welchem Zweck nutzt u-OS Docker-Container?
Flöer: Die Container-Technologie ist eine weitere Basis von u-OS. Die Container isolieren das Betriebssystem von den Apps, was separate Pflegezyklen ermöglicht und Abhängigkeiten aufbricht. Genau das wollen wir unseren Kunden bieten. Deshalb ist diese Technologie für uns so wichtig.
Inwieweit und zu welchem Zweck nutzt u-OS Webtechnologien?
Flöer: Zum einen bietet u-OS webbasierte Schnittstellen, zum anderen haben wir eine Web-UI integriert, die von jedem Webbrowser bedient werden kann. Das macht unser System noch flexibler. Front-End und Back-End lassen sich bei Bedarf verteilen und in unterschiedlichen Umgebungen ausführen.
Welche Bedeutung hat Codesys für u-OS?
Flöer: Codesys ist zweifelsohne das größte hardwareunabhängige Ecosystem für die Automatisierung. Damit ist die Unterstützung von Codesys eine wichtige Voraussetzung für eine breite Akzeptanz von u-OS. Und auch hier nutzen wir keine proprietären Derivate, sondern haben Vanilla Codesys integriert, um auch auf diesem Weg die Unabhängigkeit unserer Anwender sicherzustellen.
Welche Rolle spielt das Weidmüller-IIoT-Partner-Netzwerk, und was ist hier der Status?
Flöer: Mit über 50 Partnern bieten wir unseren Kunden ein breites internationales Netzwerk, das zur Verwirklichung kundenspezifischer Applikationen zur Verfügung steht. Daneben stellen wir den Zugriff auf die Technologien unserer Partner bereit, die den Kunden weiteren Mehrwert für ihre Anwendungen bieten können.
Wie hebt sich u-OS von anderen Betriebssystemen für die Industrie ab?
Flöer: u-OS ist dazu designt, die Unabhängigkeit der Anwender zu wahren. Wir bauen beispielsweise auf OCI-konforme Container und auf Yocto Linux und nicht auf proprietäre Derivate dieser De-facto-Standards. Damit entsteht mit u-OS auch kein neues Ecosystem, sondern es verbindet die bestehenden miteinander. Darüber hinaus können Nutzer bei u-OS ganz nach dem Motto »Alles kann, nichts muss« agieren.
Konkret bedeutet das: Kunden können das gesamte Software-Portfolio von Weidmüller verwenden. Sie können aber ebenso ihre eigene Software und eigenen Services auf das Betriebssystem aufspielen bzw. verwenden. So lassen sich die einzelnen verbundenen Geräte über u-OS organisieren, oder die Nutzer integrieren ihr eigenes Device-Management über unsere Hawkbit-Schnittstelle. u-OS ist also offen und flexibel und macht die Anwender unabhängig.
Welche Roadmap verfolgt Weidmüller mit u-OS für die nächsten Jahre?
Flöer: Im Umfeld der kommenden SPS-Messe planen wir, eine freie Version von u-OS, die sogenannte Community Edition, vorzustellen. Weiterhin ist eine Developer Edition angedacht, mit der Industriekunden u-OS künftig auch auf Fremdsystemen realisieren können.